Raimar Wagner (44 Jahre) wurde in Rupea/Reps, Kreis Bra?ov/Kronstadt, geboren. Er studierte deutsche und französische Sprache und Literatur an der Lucian Blaga-Universität in Sibiu/Hermannstadt. Ebenfalls hier studierte er ein Jahr lang intensiv Übersetzungswissenschaften. Im Zeitraum 2008-2014 wird er auf den FDGR/DFDR-Listen zum Stadtrat der Stadt Sibiu gewählt. Er hat als Journalist, Übersetzer, Unternehmer im Tourismusbereich gearbeitet oder hat soziale Projekte entwickelt. Ab 2014 arbeitete er als Projektkoordinator der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Rumänien, um ab diesem Jahr die Projektleiterstelle für Rumänien und die Republik Moldau zu übernehmen.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Förderer liberaler Werte weltweit, feiert im nächsten Jahr drei Jahrzehnte Präsenz in Rumänien. Was sind die wichtigsten Meilensteine der Stiftungstätigkeit und welche Rolle spielt sie im Demokratisierungsprozess der rumänischen Gesellschaft?
In der Vergangenheit, jetzt und in der Zukunft wird die Förderung und Verteidigung der Werte der Freiheit und des Liberalismus im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen. Wir tun das schon seit der Gründung im Jahr 1958 in ganz Deutschland und sind derzeit mit unseren Büros in über 60 Ländern weltweit vertreten. Fast dreißig Jahre lang haben wir in Rumänien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und freie Märkte gefördert. Die zu diesem Zweck eingesetzte Standard-Instrumente sind die politische Bildung, die politische Beratung und der politische Dialog. Durch unsere Veranstaltungen und Veröffentlichungen ermutigen wir Menschen, insbesondere junge Leute und Frauen, sich aktiv am politischen Leben zu beteiligen. Wir unterstützen talentierte junge Menschen durch Stipendien. Wir sind Projektpartner sowohl von Organisationen der Zivilgesellschaft als auch von liberalen Parteien die Mitglieder der Europäischen liberalen Familie sind.
Wo befindet sich Rumänien heute auf der Karte der konsolidierten europäischen Demokratien? Wie sieht das Profil des rumänischen Politikers im Jahr 2020 aus? Aber das des Wählers?
Wie Rumänien kürzlich zum Aufstrebenden Markt befördert wurde, so ungefähr sieht es bei uns mit der Demokratie aus. Wir entwickeln uns positiv, aber der Weg ist noch lang. Konsolidiert ist zu viel gesagt, wenn man daran denkt, dass wir vor nicht allzu langer Zeit sehr nahe dran waren, von diesem Weg abzuweichen. Im Gegensatz zu dem Weg, den die Länder der Visegrad-Gruppe einschlagen, wird in Rumänien eine liberale Demokratie aufgebaut. Die Gewaltenteilung im Staat funktioniert.
Das scheint sich der Wähler aus dem städtischen Raum auch zu wünschen, der dieselbe Brühe und die Transition im Allgemeinen ziemlich satt hat. Er hat Zugang zu Informationen, besucht konsolidierte Demokratien in Westeuropa und beginnt, seine Werte zu ändern, und demzufolge steigen auch seine Ansprüche. Und wenn er sieht, dass es in Städten wie Cluj/Klausenburg, Oradea/Großwardein, Hermannstadt oder der berühmten Gemeinde Ciugud/Schenkendorf besser geht, wächst seine Frustration. Gleichzeitig werden Wähler vom Typ FSN zur Minderheit, und diejenigen, die bei der Revolution 12-18 Jahre alt waren, zur Mehrheit. Sie haben jetzt Familien mit Kindern, sie interessieren sich für die Zukunft und vor allem dafür, wer sie in Richtung dieser Zukunft anführt. Sie sind besser informiert und haben ein bereits gebildetes kritisches Auge. Sie waren der Grund für die Überraschungen in Bucure?ti/Bukarest, Timi?oara/Temeswar, Câmpulung Muscel/Langenau oder Brasov/Kronstadt. Dieselbe Dynamik wird das ländliche und zugleich alternde Rumänien jedoch nicht allzu bald durchlaufen.
Die traditionellen Parteien wurden von genau dieser Dynamik auf dem falschen Fuß erwischt. In der Vergangenheit wurde nicht in die Professionalisierung der Partei investiert, kritischer Geist und die Debatte wurden unterdrückt. Darüber hinaus wurden wettbewerbswidrige Marktmechanismen geschaffen, wie etwa die Wahl von Bürgermeistern in einer einzigen Runde, die den Amtsträgern die erste Chance garantierte. Die Wahlen haben gezeigt, dass dies auch passiert ist. PSD ist weitgehend bei der größten Anzahl von Bürgermeistern geblieben, dicht gefolgt von PNL. Der mangelnde Wettbewerb auf dem politischen Markt hat auch zu einer Deprofessionalisierung der Politiker geführt, folglich lässt die Qualität der Bürgermeister und der Politiker im Allgemeinen im Verhältnis zu den Erwartungen der Wähler zu wünschen übrig.
Die Entstehung des Wettbewerbs durch USR PLUS hat sich als vorteilhaft erwiesen, da sie neue Qualitätsstandards auferlegt hat, die von der Öffentlichkeit gefordert wurden: Transparenz, Ehrlichkeit, Professionalität und insbesondere Vision. Sowohl Dominic Fritz in Temeswar als auch Allen Coliban in Kronstadt haben die Wahl mit einer positiven Stimmabgabe für sich entschieden und haben die Wählerschaft mit konkreten Projekten und einer Zukunftsvision in Bezug auf die Stadt gewonnen. In keiner dieser Städte gab es eine Stimmung gegen die amtierenden Bürgermeister, so wie es in Bukarest ein Anti-Firea-Votum gegeben hat. Die Zeit der Straßenasphaltierungs- und Kanalisationsversprechen ist, zumindest in städtischen Gebieten, so ziemlich vorbei. PNL hat die Konkurrenz im Bereich der demokratischen mitte-rechts Parteien frühzeitig erkannt und hat neue Kandidaten, sowohl in Bukarest als auch im Land, vorgeschlagen. Mit nur 33 Jahren haben wir das Beispiel des jüngsten Präsidenten des Kreisrats Maramure?/Maramuresch. Die Wiedereinführung der Stichwahl, die auch von Präsident Klaus Iohannis in seiner Rede nach den Wahlen gefordert wurde, wird die politische Klasse erneut professionalisieren und folglich den Verwaltungsakt auch verbessern.
Wahljahr inmitten einer Gesundheitskrise. Inwieweit kann die COVID-19-Pandemie den Wahlprozess beeinflussen?
Praktisch befinden wir uns seit ungefähr 2-3 Monaten im Wahlkampf und werden diesen bis zum 6. Dezember weiter führen, wenn die Parlamentswahlen stattfinden. Dies liegt auch daran, dass das Wahlgesetz großflächige Straßenwerbung während der 30 Tage des Wahlkampfs seltsamerweise verbietet, in den anderen elf Monaten jedoch nicht. Der direkte Kontakt zwischen dem Wähler und den Politikern war und wird durch die Pandemie begrenzt. Sogenannte Door-to-Door-Kampagnen oder große Wahlversammlungen werden nicht mehr stattfinden. Deshalb mussten die Parteien bereits vor Beginn des eigentlichen Wahlkampfs auf Banner und große Straßendisplays zurückgreifen.
Natürlich musste der Wahlkampf größtenteils ins Online verlegt werden. Wer sich angepasst hat, konnte bei der Öffentlichkeit punkten, was Mobilisierung und Stimmen bedeutet hat. Die Facebook-Generation wird nicht von den Jüngsten vertreten, wie man meinen würde, da diese in völlig anderen sozialen Netzwerken präsent sind. Dies ist eigentlich die Generation der 30-45-Jährigen. Laut unseren Informationen verwenden in Rumänien über 90 Prozent der Internet-Nutzer diesen Kanal. Twitter, zum Beispiel, hat sich überhaupt nicht durchgesetzt. Die Pandemie hat im Bereich Kommunikation vieles verändert, und ich glaube nicht, dass wir nach ihrem Ende sehr ins Offline-Umfeld zurückkehren werden. Online-Kampagnen erfordern weniger Personal, Zeit und Geld und können mehr potenzielle Wähler erreichen.
Die Digitalisierung ist im öffentlichen Diskurs ein allgegenwärtiger Begriff geworden. Wie verbinden wir die öffentliche Verwaltung mit den Realitäten des digitalen Zeitalters? Wie wichtig ist die Einführung der elektronischen Stimmabgabe?
Wir haben schon 2015 damit begonnen, das estnische Modell sowohl in Rumänien als auch in der Republik Moldau zu fördern. Dort ist der Verwaltungsakt zu 100% digital und das Papier wurde vollständig aus dem Kreislauf entfernt. Zusätzlich zur Effizienz hat die Digitalisierung auch die Korruption in der Verwaltung beseitigt und trägt durch Senkung der Verwaltungskosten erheblich zum BIP bei. Das wird die Zukunft sein. Es hängt von jedem Land ab, wie schnell oder wie spät dieser Punkt erreicht wird.
In Rumänien haben wir Insellösungen. Auch hier sind die oben genannten Städte führend. Das estnische Modell schlägt die Einführung einer elektronischen Identität und den Zugang zu den vom Staat gebotenen Dienstleistungen über diese Identität vor. Ein solcher Dienst sollte auch die elektronische Stimmabgabe sein, die den Zugang der vier Millionen Rumänen aus dem Ausland zum Wahlprozess erleichtern könnte, da die Briefwahl ein Misserfolg ist und auch bei den Wahlen im Dezember wahrscheinlich ebenso wenig genutzt werden wird. Durch eine Reihe von Veranstaltungen mit Experten aus Estland auf dem Gebiet der Wahlsicherheit sowie mit Politikern und NROs aus Rumänien und der Moldau haben wir die Möglichkeit der Einführung der elektronischen Stimmabgabe analysiert. Als erste Schlussfolgerung: Während es technisch möglich ist, sind die Befürchtungen hinsichtlich der Systemsicherheit hoch, begleitet von mangelndem Vertrauen in staatliche Institutionen. Ich denke, es wird noch mindestens acht Jahre dauern, ehe wir die Einführung eines solchen Systems erleben. Die gute Nachricht ist, dass das Gesetz zur Einführung dieser Identität kürzlich vom Präsidenten erlassen wurde. Es hängt nur von den zukünftigen Regierungsmitgliedern ab, wie sie es in die Praxis umsetzen und welchen Nutzen sie ihr verleihen werden.
Was sind die wichtigsten Projekte, die 2020 von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Rumänien durchgeführt wurden, und die vorrangigen Handlungsrichtungen für das kommende Jahr?
Auch wir mussten unsere Tätigkeit ins Online-Umfeld verlegen. Wir haben bereits in der letzten Märzwoche mit den ersten virtuellen Schulungen, Debatten oder Rundtischgesprächen begonnen und konnten in zwei intensiven Monaten 1.000 Teilnehmer zählen. Wir haben über digitale Anwendungen in den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft, Bildung oder Verwaltung gesprochen und haben die Probleme Bukarests und der Umwelt besprochen. Mit den Partnern vom Zentrum für Unabhängigen Journalismus analysieren wir in einer großen Studie den illiberalen Diskurs und ob individuelle Rechte und Freiheiten während der Pandemie verletzt wurden und wie die Pressefreiheit eingeschränkt wurde. Die Schlussfolgerungen der Studie werden im Dezember vorgestellt. Im Jahr 2021 werden wir uns auf gesamter Stiftungsebene darauf fokussieren, wie wir die Wirtschaft durch Mechanismen sozialer Marktwirtschaft ankurbeln können. Die Achtung der Menschenrechte und der Freiheiten der Bürger wird eine weitere wichtige Säule unserer Tätigkeit sein. In Rumänien werden wir zusätzlich zu zivilgesellschaftlichen Projekten mit unseren politischen Partnern von USR PLUS zusammenarbeiten, um eine Politik guter Staatsführung zu entwickeln.
Ein Interview von Ioan Dornescu