
Chronik einer angekündigten Krise
1889 führte Otto von Bismarck im Deutschen Reich eine Rentenversicherung ein – alle Arbeiter zwischen 16 und 70 Jahren mussten in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Der Beitrag lag bei 1,7 % des jeweiligen Lohnes und wurde jeweils zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen. Anspruch auf eine Rente hatte ab dem Alter von 70 Jahren, wer zuvor 30 Jahre lang Beiträge eingezahlt hatte. Es war eine Innovation, die die Volkswirtschaften und Gesellschaften des gesamten Kontinents bis heute prägt.
Allerdings hatte das System zur Altersvorsorge der Industriearbeiter, das schnell von anderen Ländern übernommen wurde, ein immanentes Problem, das Bismarck damals nocht nicht kommen sehen konnte. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag zu seinen Zeiten bei 40 Jahren, daher kamen im Endeffekt relativ wenige Arbeiter in den Genuss einer Rente, die sie dann auch über geringere Zeiträume beziehen würden.
Das System war finanziell also leicht tragbar.
Als aufgrund der besseren Arbeits- und Lebensbedingungen immer mehr Arbeitnehmer in Europa immer länger lebten, wurden erste Finanzierungsschwierigkeiten deutlich. Das System wurde nachgebessert, durch mehr Beitragende und höhere Beiträge. Das führte zu anderen Problemen, denn die höheren Lohnnebenkosten belasteten die Konjunktur. Transfers aus dem staatlichen Haushalt in die Etats der Rentenversicherungen mussten aushelfen, um die Arbeitskosten auf einem ertragbaren – wettbewerbsfähigen – Niveau zu halten.
Was den Westen schon früh beschäftigte, ließ Rumänien lange Zeit kalt. Im Sozialismus herrschte Ruhe, doch nach der Wende änderte sich die Situation schlagartig.
Die Anzahl der Arbeitnehmer entwickelte sich durch die Schließung oder den Bankrott nicht lebensfähiger Unternehmen zurück und viele Menschen, die eigentlich arbeitslos waren, schickte der Staat großzügig in Frührente, um die Folgen des Übergangs zur Marktwirtschaft zu kaschieren. Ein höherer Anteil von Rentnern musste von einem geringeren Anteil von Beitragszahlenden versorgt werden.
An dieser Situation hat sich bis heute wenig geändert; sie droht teilweise noch schlimmer zu werden. Und konkrete Daten lassen mit einer gewissen Genauigkeit voraussagen, wann der Gesellschaft die Konsequenzen der bisherigen Fehler am stärksten um die Ohren fliegen werden.
Rumänien leidet wie wenige andere Länder an Bevölkerungsschwund. Eine Studie des Netzwerks Balkan Insight auf der Basis von Daten der UNO und der Weltbank geht davon aus, dass Rumänien bis zum Jahr 2050 mehr als 30% seiner Bevölkerung von 1990 verlieren wird. Das ist die Folge einer negativen Geburtenbilanz (im Jahr 2018 lag die Differenz zwischen Lebendgeborenen und Sterbefällen bei einem Minus von über 73 Tausend), aber auch der massiven Auswanderung. In der Region verzeichnet Rumänien den größten Anstieg der Auswanderung seit 1990. Nach einem Bericht der Weltbank arbeiten und leben bereits zwischen drei und fünf Millionen der heute fast 20 Millionen Rumänen außerhalb ihres Landes. Unter den Auswanderern sind etwa 2,6 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter, was fast einem Fünftel der arbeitenden Bevölkerung des Landes entspricht, so die Weltbank. Ähnliche Erkenntnisse liefert auch die OECD.
Die negative Geburtenbilanz hat dazu geführt, dass sich die demografischen Alterung in Rumänien akut verschärft hat. Zum 31. Juli 2019 gab es in Rumänien 3,7 Millionen Menschen im Alter von über 65 Jahren, aber nur 3,23 Millionen zwischen 0 und 14 Jahren: eine Differenz von über 470 Tausend Personen, so die Daten des Nationalen Statistikinstituts (INS). Der sogenannte demografische Alterungsindex ist somit bedenklich: er stieg innerhalb eines Jahres von 112,1 auf 114,6 (der Index zählt ältere Menschen pro 100 junge Menschen). Das Durchschnittsalter der Bevölkerung lag bei 41,7 Jahren – das sind 0,3 Jahre mehr als am 1. Juli 2018.
Hält sich die Trendkombination zwischen ausgeprägtem natürlichen Bevölkerungsschwund, demografischer Alterung und starker Auswanderung vor allem aktiver Menschen, wird die Schere zwischen Menschen im Erwerbsalter und Senioren wohl in etwa 10-15 Jahren am weitesten auseinanderklaffen – denn ungefähr zu dem Zeitpunkt soll das rumänische Äquivalent der westlichen Baby-Boomer in den Ruhestand gehen. Die Decre?ei oder Dekret-Kinder, benannt nach einer 1966 unter Nicolae Ceau?escu erlassenen Vorschrift zur Förderung der Geburten, sind die zahlenmäßig stärkste Generation in Rumänien. Nach diversen Schätzungen könnten um das Jahr 2030 rund 1,8 Millionen Menschen in Rente gehen – ein echter Systemschock, glauben Experten.
Als ob das gestörte demographische Gleichgewicht allein nicht gravierend genug wäre, sorgen die rumänischen Politiker für eine enorme Belastung des Systems durch üppige Rentenerhöhungen. Senioren sind eine disziplinierte Wählergruppe; sie zu verschrecken, ist für alle Parteien Selbstmord. Vor allem die linksgerichteten Regierungen erhöhten seit den 1990er Jahren die Renten massiv und schadeten so der Wirtschaft, denn die Rechnung zahlten die Arbeitnehmer und Unternehmen: sehr schnell stiegen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und somit die finanzielle Belastung der Arbeit. Die Rentenzuwächse lagen außerdem konstant weit über den Produktivitätsgewinnen und über dem Wirtschaftswachstum, so dass diese Politik zu einer höheren Inflation und zu großen Defiziten führte.
Bis heute hat sich an diesem politischen Ansatz offenbar nichts geändert. Aufgrund des neuen Rentengesetzes von 2019 steigt der Anteil der Renten am BIP von 9% auf 14% bis 2022, befürchtet der frühere Chef des Fiskalrates, Ionu? Dumitru. Die Rentenpolitik der im Oktober abgesetzten Regierung hat Folgen – die Ratingagentur Fitch hat zwar Rumänien (noch) nicht abgewertet, rechnet aber mit einer schwierigeren Fiskalperspektive ab 2020-2021, weil vor dem Hintergrund einer schwächeren Wirtschaft die Renten im Schnitt um 24% in 2020 und noch einmal um 26% in 2021 steigen werden. Fitch stellt sich deshalb auf eine Verschlechterung des Defizits bis zu rund 4% bis 2021 ein – auch das wohlgemerkt nur dann, wenn Maßnahmen zur Abfederung der Rentenerhöhungen gefunden werden. Der Internationale Währungsfonds warnte unlängst, dass durch die Erhöhungen das Haushaltsdefizit bis auf 8% des BIP steigen könnte.
Obwohl der Rentenetat nach Hochrechnungen der im Oktober abgesetzten Regierung einen Überschuss von 2,9 Milliarden Lei aufweisen sollte, fand die neue Arbeitsministerin Anfang November dort ein Defizit von 2,2 Milliarden Lei vor. Trotz der desolanten Lage hat die neue Regierung aber vorerst keine Pläne angekündigt, das Gesetz abzuändern.
Dabei war das Defizit der Rentenkasse gerade durch diverse Tricks verringert worden: Anfang 2018 hatte die Regierung die Versicherungsbeiträge auf 25% gedeckelt und ausschließlich auf die Arbeitnehmer abgewälzt, wobei die Arbeitgeber nur gehalten waren, die Beträge an die Kasse zu überweisen. Um die Nettolohnverluste abzufedern, haben die privaten Unternehmen und staatlichen Einrichtungen die Bruttolöhne erhöht und für eine Weile stiegen die Einnahmen bei gleichbleibenden Rentenauszahlungen. Die Löhne im öffentlichen Dienst stiegen zudem kurzfristig mehr als die Renten, was ebenfalls dazu beitrug, das Defizit abzubauen. Da die Renten aber schnell wieder stiegen und immer noch steigen, fällt wieder Defizit an.
Außerdem verringerte die gleichzeitige Reduzierung des Lohnsteuersatzes auf 10% die Haushaltseinnahmen aus dieser Quelle, wobei allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 rund 150.000 Personen in Rumänien Dienstrenten bezogen haben. Diese Renten werden aus dem staatlichen Haushalt bezahlt, nicht aus der Rentenkasse. In den ersten sechs Monaten lag die Belastung bei etwa 4,3 Milliarden Lei, 5% mehr als 2018. Die meisten dieser Spezialrenten werden an ehemalige Angehörige des Militärs ausgezahlt, doch auch Diplomaten, Piloten, Richter und Staatsanwälte und andere Zivilisten haben einen gesetzlichen Anspruch darauf. Die langfristige Auswirkung dieser Renten auf den Haushalt ist nicht nur deshalb so ausgeprägt, weil die Beträge anders als bei der gesetzlichen Altersvorsorge der Arbeitnehmer nicht einige Hundert Euro erreichen, sondern einige Tausend. Denn viele der Staatsdiener beziehen diese Renten für eine sehr lange Zeit – im Extremfall dürfen ehemalige Beamte aus dem Innenministerium oder der Justiz sogar mit unter 50 Jahren in den Ruhestand gehen.
Rumänien unternimmt kaum etwas, um der deutlich abzusehenden Entwicklung entgegenzuwirken. Bisherige Anstrengungen wurden sogar teilweise kaputtgemacht. Anstatt zum Beispiel den Beitrag zur privat verwalteten Pflichtrentenversicherung schrittweise bis zu 6% des Bruttolohns anzuheben, so wie es die Rentenreform vorsah, wurde er sogar bis auf 3,75% verringert. Und die per Eilverordnung aufgezwungene Reduzierung der Verwaltungsprovisionen der Rentenfonds führte zum ersten Mal in den letzten sieben Jahren zu einem Verlustergebnis der Branche (minus 34 Millionen Lei nach dem ersten Halbjahr 2019, gegenüber plus 55 Millionen Lei im ersten Semester 2018). Und das, obwohl das Vermögen konstant steigt (11,6 Milliarden Euro bei 7,34 Millionen Teilnehmern, nach den ersten sechs Monaten von 2019) und die Fonds Renditen erzielen, die weit über der Inflation liegen – sie das System also entlasten, anstatt ihm auf der Tasche zu liegen.
Alex Gröblacher
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