
Das europäische Dilemma des garantierten Mindestlohns
Aus Angst vor Armut haben die Schweizer in Genf kürzlich die Einführung des weltweit höchsten garantierten Mindestlohns gebilligt: 4.086 Schweizer Franken, rund 3.700 Euro. Die von den linken Parteien und Gewerkschaften geförderte Maßnahme soll ein Mittel zur Bekämpfung der durch das Coronavirus verursachten Armut in der Schweizer Stadt sein, kommt aber auch gerade rechtzeitig, um die Diskussionen in der EU über den garantierten Mindestlohn anzuregen.
Am 16. September bestätigte die Europäische Kommission, dass sie die Festlegung eines Mindestlohns bewirken möchte, der jedem EU-Bürger einen „angemessenen Lebensstandard” bieten soll. In jüngerer Zeit sogar, Ende Oktober, schlug die Europäische Kommission eine EU-Richtlinie vor, um den Schutz der Arbeitnehmer in der Union zu gewährleisten. Ihr Ziel ist es, Mindestlöhne auf einem angemessenen Niveau festzulegen, um ihnen ein angemessenes Leben zu ermöglichen, wo immer sie auch arbeiten. Wenn angemessene Standards festgelegt werden, „haben Mindestlöhne nicht nur eine positive soziale Auswirkung, sondern bringen auch größere wirtschaftliche Vorteile mit sich, da sie die Lohnunterschiede verringern, zur Unterstützung der Inlandsnachfrage beitragen und die Motivation am Arbeitsplatz steigern”, so die Begründung der Kommission. Die Exekutive der Gemeinschaft betont, dass die aktuelle wirtschaftliche Situation insbesondere Sektoren mit einem höheren Anteil an Niedriglohnarbeitern wie Reinigung, Einzelhandel, Gesundheits- und Langzeitpflegedienste betroffen hat.
Es ist jedoch nicht bekannt, wie es möglich sein wird, den gleichen Mindestlohn allen Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten aufzuerlegen, die von nationalen Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitiken abhängig sind, die derzeit nicht aufeinander abgestimmt sind und auch in Zukunft schwer abzustimmen sind. Derzeit versucht die von der Leyen-Kommission, einen gemeinsamen Berechnungsstandard festzulegen, der zu einem Mindestlohn von 60% des nationalen Durchschnitts führen soll. Laut Brüsseler Experten würde der Mindestlohn die Arbeit fördern, die Produktivität steigern, die Binnennachfrage und die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft erhöhen und könnte auch dazu beitragen, den Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern zu verringern. Der Vorschlag der Kommission, der mit den Regierungen der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament ausgehandelt werden muss, legt nur gemeinsame Standards für einen Mindestlohn fest. „Er schafft einen Rahmen, um den Mindestlohn angemessener zu gestalten und den Zugang der Arbeitnehmer zum Mindestlohnschutz in der EU zu begünstigen. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und legt auch kein gemeinsames Mindestlohnniveau fest”, betont die Europäische Kommission. In Krisenzeiten muss die Arbeitswürde heilig sein, sagt auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, zitiert von Euractiv: „Was wir heute vorschlagen, ist ein Rahmen für Mindestlöhne unter voller Achtung der natio-nalen Traditionen und der Freiheit der Sozialpartner. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen wird nicht nur unsere Arbeitnehmer schützen, sondern auch die Arbeitgeber, die angemessene Löhne zahlen und die die Grundlage für eine faire, integrative und widerstandsfähigewirtschaftliche Erholung schaffen werden“, so die Chefin der Kommission.
Einige Kritiker des Konzepts weisen jedoch darauf hin, dass die Einführung eines Mindestlohns auf europäischer Ebene die Inflation erhöhen und einige Arbeitsplätze massiv reduzieren wird, insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen und Kleinstunternehmen, in denen sich die Lohnbelastung stark auf die Budgets der Unternehmen auswirkt. Die Chefin der Europäischen Kommission sagt jedoch, dass „Dumpinglöhne die Arbeitswürde zerstören, Unternehmer bestrafen, die angemessene Löhne zahlen, und den fairen Wettbewerb im Einzelmarkt verzerren” und folglich wird die Existenz eines Mindestlohns für einen angemessenen Lebensstandard der europäischen Arbeitskraft neues Leben einflößen.
In dem Kontext, in dem der Mindestlohn von etwas mehr als 300 Euro/Monat in Bulgarien bis zu über 2.100 Euro/Monat in Luxemburg variiert, sind die großen Unterschiede auch in den großen Unterschieden der politischen Herangehensweise in Bezug auf dieses Thema festzustellen. Die europäische Exekutive möchte nachdrücklich „Tarifverhandlungen fördern, und der Vorschlag wird die Möglichkeiten verschiedener Nationen und Traditionen voll und ganz respektieren”, wie Ursula von der Leyen sagte und sich dabei auf die Erlangung einer Reihe klarer und stabiler Kriterien für alle Nationalstaaten bezog, auf einen Verhandlungsprozess zwischen allen Gewerkschaften und allen Arbeitgebern sowie auf „funktionsfähige” Überwachungsmechanismen.
Die Idee des europäischen Mindestlohns spricht nicht alle an. Der Chefökonom von Barclays Capital, Thorsten Polleit, erklärte für DW, dass der Mindestlohn bei der Konsolidierung von Wachstum und Beschäftigung in ganz Europa „sicherlich das falsche Instrument” sei, da die Löhne in reichen Gebieten der EU „zu hoch” seien, und der Mindestlohn nicht dazu beitragen würde, Arbeitsplätze zu schaffen, die in Gebieten mit niedrigen Löhnen, also mit einer armen Wirtschaft, so dringend notwendig sind. Andere Kritiker sind der Auffassung, dass Mindestlöhne weniger produktiven Arbeitnehmern den Eintritt in den Arbeitsmarkt verweigern und dass dieses Verbot wiederum zu einer Zunahme der Unterbeschäftigung führt. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, bleibt das offene Spiel von Angebot und Nachfrage, ein Spiel, in dem der Mindestlohn fehl am Platz ist. Kritiker des Mindestlohns argumentieren daher, dass diese Politik nichts anderes als Protektionismus gegen unerwünschten Wettbewerb sei.
Der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, John Monks, sagt jedoch, dass Mindestlöhne tatsächlich für ausländische Arbeitnehmer von Vorteil sein können, die durch einen Tarifvertrag oder einen starken gesetzlichen Mindestlohnmechanismus geschützt wären. Die Finanzberaterin Mihaela Mitroi, Partnerin bei EY România, weist darauf hin, dass die Erhöhung des Mindestlohns nicht nur die Ungleichheiten zwischen den Bürgern verringert, sondern auch die Steuerbemessungsgrundlage erweitert, den Konsum und die Inlandsnachfrage stimuliert. All dies hilft der Wirtschaft, sich zu erholen.
Aus realistischer Sicht sind die Unterschiede zwischen den Ländern derzeit zu groß für eine europäische Lohnharmonisierung. Ein Mindestlohn, der in Lettland akzeptabel wäre, wäre für Deutschland zu niedrig, und ein Betrag, der für Rumänien funktionieren würde, würde für Belgien nicht ausreichen. Derzeit sind die Unterschiede für einen harmonisierten Mindestlohn einfach zu groß. In den reicheren Ländern (z.B. in den nordischen Mitgliedstaaten) ist der Mindestlohn das Ergebnis von Tarifverhandlungen, während in Ländern mit schwachen Volkswirtschaften, wie Rumänien, der Mindeststandard – mit einer tiefen Wahlkonnotation – von der Regierung festgelegt wird.
In der Europäischen Union hat das Problem der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd sowie zwischen Ost und West eine Größe und Komplexität, die nicht nur durch den europäischen Mindestlohn gelöst werden können. In vielen ärmeren Ländern – wie Rumänien – können das Sparen, finanzielle Stabilität, Kosteneffizienz und insbesondere Investitionen in Humankapital zusammen den individuellen Wohlstand und den Wohlstand der Volkswirtschaft steigern. Und, vor allem, kann eine (bessere) wirtschaftliche und finanzielle Bildung den von den Europäern gewünschten Wohlstand-Mindeststandard gewährleisten.
Angesichts unterschiedlicher volkswirtschaftlicher Entwicklungen und ohne gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik bleibt ein gleiches Wohlstandsniveau für alle Europäer weiterhin nur eine Schimäre und sicherlich ein politisches Dilemma in Europa.
Daniel Apostol
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