
Es geht auch anders
Vor kurzem war ich in Bangaluru in Indien, wo ich mit einigen lokalen Managern im Bereich des interkulturellen Managements arbeiten durfte. Jeder, der schon einmal in Indien war, weiss, dass wir es dort mit einer ganz anderen Kultur zu tun haben. Aber dieses Mal ist mir etwas aufgefallen, was mir sehr zu denken gab. Während wir vom Hotel auf dem Weg zur Firma waren, schaute ich mir den Strassenverkehr an. Wie war es möglich, für die vielen Teilnehmer – zwischen Lastwagen und Fussgängern war alles vertreten – ohne Strassenschilder, ohne klare Regeln voran zu kommen? Wie ist es möglich, dass Millionen von Menschen sich tagtäglich über die Strassen in alle Himmelsrichtungen bewegen, ohne dass Chaos ausbricht?
Während ich den Verkehr genauer beobachtete, konnte ich in den Gesichtern überraschenderweise eine gewisse Gelassenheit erkennen, zumindest war keine Agressivität zu erkennen, auch nicht in der Körpersprache. Die Menschen hupen zwar dauernd, nicht so lange und intensiv wie bei uns, aber dass ist wohl nur ein Hinweis, ohne andere zurechtzuweisen, nach dem Motto: „Achtung ich bin da, sei achtsam“. Es scheint so, als füge sich alles zu einem sich bewegenden Ganzen zusammen und kein Platz scheint verschwendet. Das hat mich sehr an das östliche Lebenskonzept: „be in the flow“ erinnert, ähnlich wie bei einem Vogel- oder Fischschwarm, der auch perfekt koordiniert ist, ohne dass jemand Schilder aufstellt oder die Richtung vorgibt. Dieses Konzept funktioniert deswegen, weil es eine Art Konsens zwischen den Teilnehmern gibt, ein bestimmtes Verhalten, das nichts mit explizit formulierten Verkehrsregeln zu tun hat.
Was passiert nun, wenn sich ein Deutscher, der klare Regeln gewohnt ist, in das Verkehrsgetümmel einer indischen Grossstadt stürzt? Sofort entsteht Stress, er sucht nach Regeln, die es nicht sichtbar gibt. Er wird sich wohl bald einen indischen Fahrer oder ein Taxi suchen. Die Erfahrung ist in sofern interessant, zeigt sie doch, dass es Kulturen gibt, die mit Komplexität anders umgehen als Kulturen in vielen westlichen Ländern. Wir versuchen, durch immer neue Regeln und Vorschriften die Dinge in den Griff zu bekommen und scheitern oft daran. Viele von uns haben eben nur diesen einen Weg gelernt, der Komplexität zu begegnen. Wir tun das im übrigen auch mit dem Leben selbst, indem wir immer mehr Wissen anhäufen, Selbsthilfebücher lesen, Informationen zur Realitätsbewältigung benötigen und Konzepte entwickeln, die uns mehr Glück und Zufriedenheit bringen sollen. Sind wir damit wirklich erfolgreich?
Seit einigen Jahren hören wir in der Wirtschaft viel über das Phänomen VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), das für viele Unternehmen immer mehr an Relevanz gewinnt. Haben wir für all diese Unwägbarkeiten wirklich ein Konzept? Versuchen wir nicht immer wieder, mit alten Instrumenten von Führung und Kontrolle den neuen Herausforderungen zu begegnen? Sind wir wirklich offen für ganz andere Herangehensweisen?
Überlegen Sie mal, was der indische Strassenverkehr uns lehren könnte. Ist die Annahme der Komplexität, das intuitive Hineinfühlen in die jeweilige Situation und mehr Flexibilität nicht auch ein gangbarer Weg? Etwas anderes ist mir beim Beobachten des indischen Verkehrs klar geworden. Das System des „in the flow“ funktioniert wohl auch deswegen, weil es viel weniger Ego-Energie gibt. Da ist keiner, der angeben muss, keiner der mit einem großen Wagen die anderen von der Strasse drängen will, keiner der auf sein Recht pocht. Na also, Systeme können auch mit weniger Ego funktionieren. Da muss keiner Chef spielen. Vielleicht liegt hier der Schlüssel für ganz neue Organisationsformen, die aus sich selbst heraus gesteuert werden und sich daraus auch eine natürliche Richtung (Strategie) ergibt. Neuere Forschungsarbeiten wie die von Frédéric Laloux weisen in diese Richtung. In seinem vielbeachteten Buch „Reinventing Organizations“ geht er auf Firmen ein, die mit derartigen Ideen bereits experimentieren. Vielleicht mehr darüber in einem anderen Beitrag.
Dr. Michael Schroeder
Share
Share