
Neuland
Das neue Unterrichtsjahr unter den besonderen Umständen der Pandemie stellt die Gesellschaft vor viele Fragen und Herausforderungen. Die Zukunft ist für Schüler, Eltern, Lehrkräfte und Entscheidungsträger in Rumänien eine große Unbekannte.
Als die Welt im Frühling unter der COVID-19-Pandemie allmählich zum Stillstand kam, waren Bildungspolitiker in Rumänien wie überall gezwungen, schnell zu improvisieren. Es galt, die letzten wenigen Monate vor den Sommerferien zu überbrücken und vor allem, die Abschlussprüfungen so reibungslos wie möglich auszurichten. Der Unterricht wurde kurzerhand ins Internet verlegt. Doch die Umstellung war nicht einfach. Wenige wussten, wie man Lerninhalte wirksam online vermittelt. Schüler waren im Umgang mit der Technik versiert, hatten oft aber keine eigenen Geräte; Lehrer konnten umgekehrt mit ihrer Technik weniger anfangen. Mit Ach und Krach wurde das Unterrichtsjahr abgeschlossen, Lücken im Kenntnisstand wurden elegant totgeschwiegen, die Lernstandserhebung nach der 8. Schulklasse und das Abitur wurden so organisiert, dass möglichst alle mitkommen sollten. Wie viel verpasst wurde, zeigt eine Studie des unabhängigen Thinktanks IRES vom Mai 2020: ein Drittel der Schüler während des Notstands – also der heißen Phase der Pandemie – nicht in täglichem Kontakt mit den Lehrern stand und dass bei etwa 40% der Kinder dieser Kontakt nur zu einigen dieser Fächer bestand.
Politiker und Pädagogen spielten sodann auf Zeit – die Idee war, während der Sommermonate, wenn Ruhe im Schulbetrieb einkehrt, für ein besseres neues Jahr zu planen. Trotzdem betreten alle jetzt wieder Neuland.
Experten sind sich einig, dass der Schulbetrieb unbedingt in möglichst normalen Zuständen beginnen musste – denn die Alternative sieht katastrophal aus. Die OECD warnt in einem Bericht, dass die genauen Lernverluste zwar noch nicht bekannt sind, jedoch deuten bestehende Untersuchungen darauf hin, dass die Schülerinnen und Schüler der Klassen 1-12 die von den Schulschließungen betroffen sind, über ihre gesamte Lebenszeit mit etwa 3% weniger Einkommen rechnen können. Für die Nationen könnte das geringere langfristige Wachstum im Zusammenhang mit solchen Verlusten für den Rest des Jahrhunderts zu einem um durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren jährlichen Bruttoinlandsprodukt führen. Diese wirtschaftlichen Verluste würden noch zunehmen, wenn die Schulen nicht in der Lage sind, schnell wieder anzufangen.
Es war zugleich zunehmend klar, dass der Schulbetrieb auch in nächster Zukunft im Zeichen der Pandemie stehen würde. Wie auch in anderen Ländern legten die Behörden einen abgestuften Plan vor, der in drei verschiedenen Farbszenarios von dem unbeschränkten Präsenzunterricht bis zur vollständigen Schließung von Schulen reicht. Schulen und Schulämter würden dezentral entscheiden können, welcher Plan wann umgesetzt wird. An den Schulstart gingen nach dem optimalen grünen Plan über 12.000 Schulen. In rund fünftausend Schulen galt das gelbe Szenario – dort gehen Grundschüler zum Präsenzunterricht, während ältere Schüler nach dem Rotationsprinzip abwechselnd online lernen und zur Schule kommen. Für etwa 260 Schulen wurde das rote Szenario mit ausschließlichem Onlineunterricht aktiviert – betroffen sind allein von diesem Szenario rund 100 Tausend Kinder. Der Übergang von einem Plan zum anderen erfolgt fließend: in den ersten Tagen nach der Eröffnung wurde in einigen Schulen der Fall Rot umgesetzt, nachdem Lehrer und/oder Schüler positiv auf COVID-19 testeten.
Die Gefahr, dass ärmere Schüler im neuen Online-Paradigma noch stärker als bisher zurückbleiben würden, war den Behörden schon seit April bekannt, als UNICEF in einem Bericht davor warnte.
Im Mittelpunkt der Vorbereitungen stand daher die Überwindung des Digitalgefälles. Die rumänischen Behörden bemühten sich zunächst, Tablets für die Kinder zu kaufen, deren Familien sich die Geräte nicht leisten konnten. Doch der Erfolg der Aktion hielt sich in Grenzen. Als die Schulen am 14. September öffneten, fehlten den Kindern vielerorts noch die Instrumente, um am Onlineunterricht teilnehmen zu können. Das Bildungsministerium wollte 250 Tausend Tablets kaufen; die beauftragte Behörde, das nationale Beschaffungsamt ONAC setzte jedoch den Auftrag in den Sand. Ende August räumte Premierminister Orban ein, dass bis Schulbeginn wahrscheinlich nur 70- 80 Tausend Tablets gekauft werden könnten, weshalb er die ONAC-Chefin Cornelia Nagy absetzen wolle. Allerdings stelle die Regierung den Kommunalbehörden Mittel in Höhe von 50 Millionen Euro bereit, um den Kauf von weiteren etwa 500 Tausend Geräten sowie von anderem Material – zum Beispiel Schutzausrüstung – abzurechnen.
Vertreter der Schüler klagten, dass der Bedarf an Tablets überdies zu niedrig angesetzt wurde. Sie berufen sich dabei auf die IRES-Studie, laut der in Rumänien von knapp 2,8 Millionen Schülern etwa ein Drittel, also mehr als 900 Tausend, entweder keinen oder nur begrenzten Zugriff auf Tablets oder Laptops haben. Die Zahl, die IRES nach einer Umfrage hochrechnete, ist mindestens drei Mal so hoch, als die Regierung schätzte.
Beschaffunsgexperten zweifeln, ob der zentrale Ansatz der richtige war. Es hätte sich eher angeboten, den Familien den Kauf eines Tablets zu finanzieren, zum Beispiel über Gutscheine oder ähnliche Methoden.
Doch während die Diskussion über die Beschaffungsmethode der Tablets in vollem Gange ist, fragen sich Repräsentanten der Schüler und auch Bildungspraktiker, ob diese Art von Gerät überhaupt für das E-Learning geeignet ist: online zu unterrichten bedeute nach einer Petition, die der Verein Declic und der Rat der Schüler ins internet stellte, mehr als nur einen Schnappschuss mit der Lektion aus dem Lehrbuch per Whatsapp zu verschicken. Telefone und Tablets seien Instrumente, auf denen man Informationen nur visualisieren könne – geeigneter für die Schüler seien Laptops, die auch mehr Funktionen zum E-Learning anbieten.
Die Hardware ist jedoch nur ein Aspekt, den es bei der Digitalisierung des Unterrichts zu berücksichtigen gilt – und nicht einmal der wichtigste. Noch wichtiger ist die Software und die Konzepte dahinter. Die Bukarester Universitätsprofessorin Alina Bârg?oanu brachte es in einem Gastartikel in der Onlinezeitung Gândul auf den Punkt: Tablets unterrichten ja nicht wie von Zauberhand Mathematik und Rumänisch. Man könne nicht mehr fragmentiert arbeiten, wo jeder sein Plattformsüppchen auf YouTube, Zoom, Webex, Google Classrooms, Whatsapp, E-Mail oder Facebook kocht. Gefragt sei eine standardisierte Plattform, die auch den Datenschutz gewährleistet, aber auch Feedback zur Feinjustierung der Bildungspolitik, behauptet sie.
Der anerkannte Erziehungsexperte und frühere Bildungsminister Mircea Miclea forderte ebenfalls eine solche Plattform, darüber hinaus aber auch eine virtuelle Bibliothek und neue Lerninhalte.
Bis zu einem solchen zentralisierten Lehrangebot gibt es jedoch noch andere Probleme. Das Ministerium lässt es beispielsweise nicht zu, dass Vorlesungen in der Klasse aufgenommen werden – auch weil die rumänischen Lehrer sich unter Berufung auf Datenschutzgründen dagegen sträuben. Vielerorts funktioniere das System für Liveübertragungen nicht, aus diesem Grund müssen die Schüler die Lektionen abrufen können, verlangt jedoch der Schülerrat.
Das hat auch mit der Telekommunikationsinfrastruktur zu tun: zwei Wochen vor Schulbeginn waren nach Angaben der Behörden 5.000 Schulen nicht ans Internet-Festnetz angeschlossen. Erst auf den letzten Metern liefen die Vorbereitungen, um zumindest 2.800 von ihnen anzuschließen. Sorin Grindeanu, der bisherige Chef der Telekommunikationsbehörde ANCOM und sozialdemokratischer Politiker, kritisierte, dass mehr als ein Viertel aller Schulen kein Festnetzinternet hat, während mobile Datenverbindungen diesen Mangel nur bedingt auffangen könnten.
In Kommunen ohne Internetverbindung sind Tablets keine Lösung für den Onlineunterricht. Wenn Schulen schließen, kommunizieren Lehrer mit ihren Schülern dort über Smartphones. Und wenn auch keine mobile Datenverbindungen existieren, kehrt der Schulbetrieb zu vorsintflutlichen Zuständen zurück: Lehrer schicken den Schülern die Übungen für die Hausaufgaben mit dem Postboten und bekommen sie so auch zurück.
Aber auch wenn die Geräte und die Verbindungen und die Lernplattformen da sind, müssen immer noch Lehrer und Eltern ausgebildet werden, damit zu arbeiten. Auch hier ermahnte UNICEF in der Schnellbewertung vom April, dass „die Behörden oder Schulen nur sehr wenig auf solche Bedürfnisse eingehen. Während sich im Kontext der COVID-19-Pandemie das Lehrparadigma rasch ändert, wird das Fehlen einer Strategie auf nationaler Ebene, um einheitliche Maßnahmen zur Koordinierung zu ergreifen, als das wichtigste strukturelle Hindernis angesehen“.
Außerdem ist die Digitalisierung ohnehin kein Allheilmittel – im dualen System des beruflichen Unterrichts und auch in bestimmten Bereichen des Hochschulstudiums unmöglich, alles nur digital zu erlernen.
Alex Gröblacher
Share
Share