
Wind in wessen Segeln?
Im Monat September jeden Jahres hält der Präsident der Europäischen Kommission vor dem Europäischen Parlament die Rede zur Lage der Union, in der er die Erfolge des vergangenen Jahres aufzählt und die Prioritäten für das kommende Jahr vorstellt. Der Präsident stellt ebenfalls die Art und Weise vor, in der die Kommission die dringlichsten Herausforderungen, mit denen die Europäische Union konfrontiert wird, angehen wird. Der Rede folgt eine Debatte im Plenum. Das ist der Startpunkt des Dialogs mit dem Europäischen Parlament und dem Rat zur Vorbereitung des Arbeitsprogramms der Kommission für das kommende Jahr. Zusätzlich haben Präsident Juncker und der Erste Vizepräsident Timmermans dem Präsidenten des Europäischen Parlaments und der Präsidentschaft des Rates eine Absichtserklärung zugeschickt, in der sie im Detail die Maßnahmen und sonstige Initiativen vorstellen, die die Kommission bis zum Ende des kommenden Jahres (2018) auf gesetzlicher Ebene zu unternehmen vorhat. Dies ist auf ausdrücklicher Weise in der Rahmenvereinbarung vom Jahr 2010 zu den Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission vorgesehen.
In seiner Rede vom 13. September hat der Präsident der Europäischen Union, Jean-Claude Juncker, die Vision zur Art und Weise vorgestellt, in der sich die Europäische Union bis 2025 entwickeln könnte. Als Neuheit gilt die Einführung des 6. Szenarios, „Europa der Werte”, zusammen mit den anderen 5, die bereits seit 1. März des laufenden Jahres vorgestellt wurden, wobei zu diesem Datum auch die Debatte zum Weißbuch Europas startete. Obwohl der Präsident der Europäischen Kommission nur die 5 vermutlichen Wege vorgestellt hatte, die die Union gehen sollte (wobei die Mitgliedstaaten mit keinem von denen voll und ganz zufrieden war) kommt Juncker jetzt, ohne auf das Modell zu beharren, das er selber empfiehlt (mit viel Kritik gegenüber dem Mangel an Optionen, Mangel an Auswahl einer klaren Richtung), mit einer klaren Nuance und präsentiert dieses 6. Szenario als seine eigene Vision im Hinblick auf die Europäische Union, wobei er dadurch die ursprüngliche Idee der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, der konzentrischen Kreise beseitigt, und irgendwie am meisten die mittel- und osteuropäischen Staaten fördert. In diesem neuen Szenario des europäischen Verlaufs muss laut Juncker das Hauptprinzip „Mitglied des Euroraums, der Bankenunion und des Schengen-Raums zu sein”. Zusätzlich wird die rumänische Eitelkeit von der Rede der europäischen Führungsperson befriedigt, die einen möglichen Sondergipfel der EU am 30. März 2019 in Rumänien ankündigt, wo über die Zukunft der Europäischen Union entschieden werden soll. Der Präsident hat einen Fahrplan für eine vereinigtere, stärkere und demokratischere Europäische Union vorgestellt und erklärte: „Ich werde mich selbstverständlich an dieser an Intensität zunehmenden Debatte beteiligen und dabei 2018 besonders Estland, Lettland, Litauen und Rumänien in den Blick nehmen. Diese Länder feiern im kommenden Jahr ihren hundertsten Geburtstag. Wer die Zukunft unseres Kontinents gestalten will, sollte unsere gemeinsame Geschichte gut verstehen und ehren. Das gilt auch für diese vier Länder – Europa wäre ohne sie nicht vollständig.”
Was den Beitrag Rumäniens zur Union betrifft, erklärte der Präsident der Europäischen Kommission Folgendes: „Um ihre Einheit zu stärken, muss die Europäische Union auch inklusiver werden. Wenn wir den Schutz unserer Außengrenzen verstärken wollen, dann müssen wir Rumänien und Bulgarien unverzüglich den Schengen-Raum öffnen.”
Zehn Jahre nach Ausbruch der wirtschaftlichen und finanziellen Krise, macht die Wirtschaft Europas eine Kehrtwende. Der wirtschaftliche Aufschwung bringt auch ein gewisses neues Vertrauen in das europäische Projekt mit sich, obwohl sich Europa mitten in der Verhandlung des größten „Schrittes rückwärts”, dem BREXIT, befindet. Juncker meint: „während wir den Blick in die Zukunft richten, dürfen wir nicht vom Kurs abkommen. (…) Diese Zeit müssen wir nutzen, um das zu vollenden, womit wir in Bratislava begonnen haben. Unsere Zukunft darf jedoch nicht ein bloßes Szenario bleiben. (…)Wir müssen heute die Union von morgen vorbereiten.” Zum BREXIT erinnerte der Präsident der Europäischen Kommission: „Am 30. März 2019 werden wir somit eine Union der 27 sein”, daher müssen sich die Mitgliedstaaten „auf diesen Moment gut vorbereiten, unter den 27 und innerhalb der EU-Institutionen.” Junker zeigt sich zuversichtlich im Hinblick auf den europäischen Verlauf und sagt, dass sich die Europäer am 30. März 2019 in einer Union wiederfinden werden, in der sie alle ihre Werte wahren werden, eine Union, in der alle Mitgliedstaaten den Rechtsstaat mit Nachdruck respektieren, „in der wir die Grundlagen für unsere Wirtschafts- und Währungsunion so gefestigt haben, dass wir Europäer unsere Gemeinschaftswährung in guten und in schlechten Zeiten verteidigen können, ohne Hilfe von außen zu suchen.” Interessant ist auch die Art und Weise, in der Juncker die kommende Führung auf Ebene der UE sieht: „ein einziger Präsident wird die Arbeit der Europäischen Kommission und des Europäischen Rats leiten, der nach einem europaweiten demokratischen Wahlkampf gewählt wird”. Die Rede des Präsidenten Juncker im Europäischen Parlament wurde von der Verabschiedung einiger konkreten Initiativen der Europäischen Kommission im Bereich Handel, vorangehende Überprüfung der Investitionen, Cybersecurity und Datentransfer, und Demokratie, begleitet. Der wesentliche Vorschlag Junckers im Rahmen seiner Rede zur Lage der Union ist derjenige bezüglich der möglichen Einführung eines Mechanismus zur Vor-Beitrittsunterstützung, das den Staaten zur Verfügung gestellt werden soll, die die einheitliche Währung einführen möchten. „Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen, mit dem östlichen und dem westlichen. Ansonsten gerät unser Kontinent in Atemnot. In einer Union der Gleichen kann es keine Bürger zweiter Klasse geben”, war das von Jean-Claude Juncker unterstrichene Prinzip. „Europa der Werte”, nach Junckers Ansicht, würde weiterhin alles Gute behalten und „neue Eigenschaften hinzufügen, in der Milch und Honig fließt und alle einander lieben”, so wie Prof. Dr. Valentin Naumescu vor Kurzem kommentierte.
Man stellt sich aber, offensichtlicherweise, die Frage: „Wie realistisch ist diese Vision Junckers?” Die optimistischsten Beobachter, insbesondere die rumänischen und die aus den offiziellen Kreisen, wurden dazu verleitet, zu sagen, dass Rumänien endlich das erwartete Zeichen erhält: offene Barriere für den Beitritt zum Schengen-Raum, grünes Licht für Rumäniens Aufnahme in den „harten Kern” Europas. Jedoch, so wie Prof. Naumescu meinte, „war der Enthusiasmus der Regierungsvertreter aus Rumänien nach Junckers Rede (unerlaubt) groß, an der Grenze der Naivität”. Warum sollten wir bei der Ausdrückung des Enthusiasmus im Hinblick auf „Europa der Werte” zurückgehaltener sein? Erstens, weil das Szenario vom Präsidenten der Europäischen Kommission stammt, ohne vom Europäischen Rat, also dem höchsten Entscheidungsforum der Mitgliedstaaten, validiert zu werden. Das bedeutet eigentlich, dass ein langer und komplizierter Weg von Worten bis hin zu Taten zurück zu legen ist. Die Mitgliedstaaten müssen zuerst den Bruch verwalten, den der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU bewirkt hat. Dann bleibt auf den Schultern der Mitgliedstaaten weiterhin das Dauerproblem der Lücken Ost-West und Nord-Süd, die sich, weit entfernt von einer Lösung, mit jedem Tag vergrößern. Und das unter den Bedingungen, unter denen sich der fragile europäische wirtschaftliche Aufschwung weit von einem soliden Fundament für eine europäische wirtschaftliche Konstruktion befindet, die auf die Gleichheit der nationalen Wirtschaften, Gruppeninteressen und keineswegs auf internationale Interessen, auf gemeinsame wirtschaftliche, finanzielle, monetäre und steuerliche Politiken und nicht auf euro-NON-euro-Separtismus, basiert. Drittens klingt „Europa der Werte” eher als der Ausdruck des Wunsches eines Politikers, der sich gegen Ende seiner Karriere befindet, und der einen „schönen” Abgang von der Szene machen möchte, aber der bereits auf ironischer Weise als „Romantiker” eingestuft wird. Junckers Romantismus wurde vom niederländischen Premierminister, Mark Rutte, stark kritisiert. Dieser sagte, dass diejenigen mit „Visionen” normalerweise einen Arzt aufsuchen müssen. Laut cursdeguvernare.ro haben auch der österreichische Kanzler, Christian Kern, auch sein Außenminister, Sebastian Kurz, „im Tandem die Möglichkeit der Erweiterung des Euro- und Schengen-Raums in Richtung Osten abgewiesen” und haben laut Zitat von Reuters erklärt, dass „es keinen Sinn macht, die Euro-Zone zu erweitern, ehe sie ihre Probleme löst. Es wäre eine Erweiterung der Probleme, kein Plus für die europäische Zusammenarbeit.”
Die zurückgehalteneren Beobachter (um nicht Pessimisten zu schreiben) sind sich aber einig, dass wir es eigentlich mit einem schönen diplomatischen Pass des Chefs der Europäischen Kommission zu tun haben, da er sich der schweren „Lage der Union” bewusst ist und die Richtung kennt, die die größten – und einflussreichsten – Staaten der EU einschlagen möchten. Macron möchte, dass Frankreich ihre Interessen mindestens so viel wie Angela Merkels Deutschland durchsetzt. Und Merkels vierte Amtszeit als Kanzlerin (kürzlich gewonnen durch Wahlen) wird unter dem Zeichen strenger Reformen verlaufen, die sie nicht nur der Euro-Zone auferlegen wird, sondern der gesamten Union. Das Tandem Paris – Berlin wird in einem Pedalierrhythmus verlaufen, den die mittel- und osteuropäischen Staaten nicht mithalten können, und „Europa der Werte” wird eigentlich „Europa der zwei Geschwindigkeiten” sein. Laut Professor Valentin Naumescu hinterlässt „der versierte Juncker” auf den Schultern „der Staats- und Regierungsoberhäupte aus der Union die Last der schweren politischen Entscheidungen, der Sanktionen für die Rebellen aus Visegrad oder wo sie noch sein mögen, der Änderung des Schengener Abkommens, der internen Mechanismen der Euro-Zone und der Finanzierungsregeln, des Bajonettkampfs, den die Mainstream-Parteien gegen die Rechtspopulisten oder Linkspopulisten und gegen die radikalen Nationalisten aus ihren eigenen Demokratien führen, wobei sie manchmal Einiges aus deren Diskursarsenal ausleihen müssen, um sie in den Wahlen zu besiegen.”
Um auf die Rede zur „Lage der Union” zurück zu kommen, ist der interessante Ausdruck des Präsidenten der Europäischen Kommission diejenige, die die EU mit einem Schiff mit Wind in den Segeln: „Europa hat wieder Wind in den Segeln, aber wir werden nirgends ankommen, wenn wir nicht davon profitieren. (…) Wir sollten die Richtung für die Zukunft bestimmen. (…) Jetzt ist der Moment, um ein mehr geeintes, stärkeres und demokratischeres Europa für das Jahr 2025 aufzubauen.” Das Bild mit dem „Wind in den Segeln” ist schön, aber ich kann nicht damit aufhören, weiter zu fragen: „In wessen Segeln bläst der Wind eigentlich?”
INITIATIVEN A LA JUNCKER:
Handel: „Partner aus der ganzen Welt stehen Schlange, um Handelsabkommen mit uns abzuschließen. Heute schlagen wir vor, Verhandlungen über Handelsabkommen mit Australien und Neuseeland aufzunehmen.”
Industrie: „Die Kommission hat heute eine neue Strategie für die europäische Industriepolitik beschlossen, so dass unsere Unternehmen in puncto Innovation, Digitalisierung und Verringerung der CO2-Emissionen weltweit die Nummer eins bleiben oder werden.”
Bekämpfung des Klimawandels: „Da die Vereinigten Staaten ihren Ehrgeiz offenbar heruntergeschraubt haben, wird Europa dafür Sorge tragen, unsere Erde – die unteilbar Heimat aller Menschen ist – wieder großartig zu machen.”
Cybersecurity: „Deshalb schlägt die Kommission heute neue Instrumente und eine neue Europäische Agentur für Cybersicherheit vor – diese soll uns in Zukunft besser vor solchen Angriffen schützen.”
Migration: „Europa ist und bleibt der Kontinent der Solidarität, auf dem diejenigen Schutz finden, die vor Verfolgung geflohen sind.” „Wir haben gemeinsame Grenzen, aber die Staaten, die wegen ihrer geografischen Lage die erste Anlaufstelle sind, dürfen nicht allein für den Grenzschutz verantwortlich sein. Gemeinsame Grenzen und gemeinsamer Grenzschutz gehören zusammen.”
Europäisches Solidaritätskorps: „Besonders stolz bin ich auf die jungen Europäerinnen und Europäer, (…) die Teil unseres neuen Europäischen Solidaritätskorps sind. Diese jungen Menschen verleihen dem Grundsatz der europäischen Solidarität Leben und Farbe.”
Auslauf: „Für mich ist Europa mehr als Binnenmarkt, Geld, Währung, Euro. Es geht immer vorrangig um Werte.”
Eine Europäische Behörde im Arbeitsbereich: „Es ist absurd, dass eine Bankenaufsichtsbehörde darüber wacht, ob Bankenstandards eingehalten werden. Es ist absurd, dass es keine gemeinsame Arbeitsbehörde gibt, die für Fairness innerhalb des Binnenmarktes sorgt. Wir werden diese Behörde schaffen.”
Doppelte Standards hinsichtlich der Qualität der Lebensmittelprodukte: „In einer Union der Gleichen kann es keine Verbraucher zweiter Klasse geben. Ich werde nicht akzeptieren, dass den Menschen in manchen Teilen Europas qualitativ schlechtere Lebensmittel verkauft werden als in anderen.”
Der Rechtsstaat: „In Europa ist die Stärke des Rechtes an die Stelle des Rechts des Stärkeren getreten. (…) Rechtsstaatlichkeit ist in der Europäischen Union keine Option. Sie ist Pflicht.”
Euro-Zone: „Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, dann sollte er mehr sein als die Währung einer ausgewählten Ländergruppe. Der Euro ist dazu bestimmt, die einheitliche Währung der Europäischen Union als Ganzes zu sein.”
Ein Europäischer Minister für Wirtschaft und Finanzen: „Wir brauchen einen Europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, einen europäischen Minister, der positive Strukturreformen in unseren Mitgliedstaaten fördert und unterstützt.”
Die Institutionsreform: „Europa würde besser funktionieren, wenn wir das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission mit dem des Präsidenten des Europäischen Rates verschmelzen könnten. Wenn wir nur einen Präsidenten hätten, würde das der wahren Natur unserer Europäischen Union besser gerecht werden, da diese sowohl eine Union der Staaten als auch der Bürger ist.”
Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission:
„Wenn wir wollen, dass der Euro unseren Kontinent mehr eint als spaltet, dann sollte er mehr sein als die Währung einer ausgewählten Ländergruppe. Der Euro ist dazu bestimmt, die einheitliche Währung der Europäischen Union als Ganzes zu sein. Alle außer zwei Mitgliedstaaten sind verpflichtet und berechtigt, dem Euroraum beizutreten, sobald sie alle Bedingungen erfüllen. Doch die Mitgliedstaaten, die dem Euroraum beitreten mochten, müssen dies auch tun können. Deshalb schlage ich die Schaffung eines Euro-Beitrittsinstrumentes vor, das ihnen technische, manchmal auch finanzielle Heranführungshilfen bietet. Wenn wir wollen, dass Banken überall auf unserem Kontinent nach denselben Regeln und unter derselben Aufsicht arbeiten, dann sollten wir alle Mitgliedstaaten ermutigen, der Bankenunion beizutreten. Die Bankenunion muss unverzüglich vollendet werden. Dazu müssen wir die verbleibenden Risiken in den Bankensystemen mancher Mitgliedstaaten verringern. Die Bankenunion funktioniert nur wenn die Begrenzung und das Teilen von Risiken Hand in Hand gehen.” „Am 30. März 2019 werden wir somit eine Union der 27 sein. Wir sollten uns auf diesen Moment gut vorbereiten, unter den 27 und innerhalb der EU-Institutionen.
Die Wahlen zum Europäischen Parlament finden ein paar Wochen später statt, im Mai 2019. Nur wenige Wochen später haben die Europäer also ein Rendezvous mit der Demokratie. Sie haben Anspruch darauf zu wissen, wie sich die Europäische Union in den kommenden Jahren entwickeln wird. Deshalb appelliere ich an Präsident Tusk und an Rumänien, das in der ersten Jahreshälfte 2019 den Ratsvorsitz innehaben wird, am 30. März 2019 einen Sondergipfel einzuberufen. Mein Wunsch ist, dass dieser Gipfel in der schönen alten Stadt Sibiu stattfindet, die ich noch als Hermannstadt kenne. Das wäre der Moment, um gemeinsam die Beschlüsse zu fassen, die für ein mehr geeintes, stärkeres und demokratischeres Europa notwendig sind.”
von Daniel Apostol
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