
Das digitale Paradox
An guten Nachrichten aus dem rumänischen IT-Sektor fehlt es wirklich nicht. Auf sein Konto gehen im Moment fast sechs Prozent des BIP des Landes, in 2020 soll der Beitrag sogar auf neun Prozent steigen. Seit Jahren sind die Umsätze kontinuierlich höher: 2012 lagen sie laut Daten des Branchenverbands ANIS noch bei rund 1,9 Milliarden Euro, für 2016 rechnet der Verband mit über 3,6 Milliarden Euro – praktisch eine Verdoppelung.
Auch Invest Romania, die Regierungsstelle zur Förderung ausländischer Investitionen in Rumänien, wirbt mit einem eindrucksvollen Bild der Industrie: In Bukarest und anderen Universitätsstädten wie Temeswar, Ia?i, Klausenburg, Hermannstadt, Kronstadt, Gala?i oder Craiova arbeiten über 100 Tausend Beschäftigte insbesondere für Firmen im Ausland; Rumänien gilt als günstiger Standort für das Outsourcing von Geschäftsdienstleistungen, aber auch für Forschung und Entwicklung.
Unter diesen Voraussetzungen sollte man annehmen, dass Rumänien sich auch im europäischen Vergleich als ausgeprägt digitale Gesellschaft positioniert – doch das stimmt nicht, eher das Gegenteil ist der Fall.
Seit geraumer Zeit ist Rumänien Schlusslicht im Ranking der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft, den die Europäische Union unter dem Namen DESI erstellt (die Abkürzung steht für Digital Economy and Society Index).
2017 war keine Ausnahme – wieder nur Platz 28 mit 0,33 Punkten, wobei Dänemark Tabellenführer mit 0,7 Punkten ist und der EU-Durchschnitt bei 0,52 Punkten liegt. Von den fünf Kapiteln, anhand derer DESI den digitalen Fortschritt misst, belegt Rumänien nur bei der Konnektivität einen besseren Platz: 22. Bei den anderen vier Bereichen – Humankapital, Internetnutzung, Integration der Digitaldienste in der Wirtschaft, digitale öffentliche Dienste – landet Rumänien jeweils nur auf den letzten Platz unter allen EU-Staaten. Nur bei einzelnen Indikatoren kann das Land etwas besser punkten.
Konnektivität: Es klingt beispielsweise zwar gut, dass 89 Prozent der Haushalte im Einzugsbereich von festen Breitbandnetzen liegen, aber auch so landet Rumänien in der Rangordnung dieses Einzelindikators nur auf Platz 26 in der EU, wo der Mittelwert bei 98% liegt. Rund 72% der Haushalte liegen im Deckungsbereich von Hochgeschwindigkeitsnetzen, also von Netzen mit über 30 MB pro Sekunde. Der EU-Mittelwert liegt bei 76%. Der Anteil der Verträge für Hochgeschwindigkeitsdienste liegt dabei bei 72%, damit liegt Rumänien auf dem 2. Platz in der EU. Ganz schlecht sieht es dann wieder bei der Abdeckung durch schnelle Mobilnetze aus: Für nur 45% der Haushalte waren die mobilen 4G-Netze erreichbar, in der Gesamt-EU waren es 84%.
Humankapital: Während in der EU 79% der Bürger das Internet nutzen, sind es in Rumänien nur 56% – die wenigsten. 28% haben digitale Grundfähigkeiten und 1,9% gelten als Spezialisten – knapp die Hälfte im Vergleich zur Gesamt-EU (56% bzw. 3,5%). Dadurch schafft es Rumänien auf Platz 27 im DESI-Ranking. Deutlich besser sieht das Lagebild hinsichtlich der STEM-Absolventen aus, d. h. der jungen Leute, die Wissenschaften, Technik, Ingenieurwissenschaften oder Mathematik studiert haben. Hier belegt Rumänien mit 16 Absolventen pro 1000 Einwohner (im Alter zwischen 20 und 29 Jahren) Platz 17 in der EU. Problematisch ist diesbezüglich, dass der Stand dieses Indikators zuletzt 2014 gemessen wurde und etwas überholt wirkt. Invest Romania geht in einer Branchenpräsentation jüngeren Datums davon aus, dass der Anteil der Ingenieure an der Gesamtbevölkerung höher als in den USA, Indien, China oder Russland ist und dass die Universitäten jährlich über 7000 Diplomingenieure produzieren.
Bei der Nutzung des Internets – dem dritten Kapitel – ist die Situation wiederum differenzierter zu betrachten: 74% der Nutzer sind in sozialen Netzwerken unterwegs und 45% haben Videoanrufe getätigt, was Rumänien auf Platz 8, bzw. 15 in Europa bringt. Doch weil nur 63% Nachrichten gelesen haben, rutscht Rumänien von Platz 22 im Jahr 2016 auf Platz 25 in diesem Jahr ab. Und in den marktrelevanten Bereichen wie Musik, Spiele, Video on Demand, Banking oder Einkaufen belegt Rumänien wieder Platz 27 oder 28 in der EU.
Aus der Perspektive der Integration digitaler Technik durch die Wirtschaft schneidet Rumänien im unteren Drittel der EU-Mitgliederab. Während Privatnutzer sich an soziale Netzwerke gewöhnt haben, sind diese für Unternehmer ein eher unbekanntes Feld: Gerade 8% der Firmen nutzen Social Media, in der EU sind es 20%. Und nur 1,9% verkaufen ins Ausland über das Internet (EU – 7,5%). In beiden Bereichen liegt Rumänien nur auf Platz 28. Eine erfreuliche Ausnahme ist der Einsatz von RFID-Technik, also der Identifizierung mit Hilfe von Radiowellen – hier belegt Rumänien Platz 14 und liegt mit 4% der Unternehmen etwa gleichauf mit dem europäischen Durchschnitt.
Nicht nur die Wirtschaft tut sich schwer mit der Integration der digitalen Technik, sondern auch der Staat. Auch bei den öffentlichen digitalen Dienstleistungen hinkt Rumänien der restlichen EU nach. Nur sechs Prozent der Internet-User haben E-Government-Dienste genutzt, zwei Prozentpunkte weniger als im Ranking von 2016. In der EU sind es im Schnitt 34 Prozent. Allein im Bereich Open Data hat Rumänien sechs Plätze im Vergleich zum DESI 2016 aufgeholt und liegt jetzt auf Platz 11.
Das Gesamtbild lässt wenig Grund zum Optimismus – die IT-Sparte ist zwar gut entwickelt, der Rest der Wirtschaft und der Gesellschaft profitiert jedoch verhältnismäßig wenig von einer positiven Spillover-Wirkung. Die vielen gut ausgebildeten und fremdsprachenaffinen Fachkräfte arbeiten vor allem für ausländische Firmen, die aus Kostengründen Dienstleistungen ausgelagert haben. Doch eine digitale Kluft zwischen digitalen Hochburgen wie Bukarest, Temeswar oder Klausenburg und dem Rest des Landes ist nicht gesund und sollte überbrückt werden – Potenzial für einen soliden internen Markt gibt es aufgrund des hohen Nachholbedarfs genug, wie die DESI-Studie eindeutig zeigt.
Eine Analyse von Alex Gröblacher
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