Billiges Geld, verdammt teuer
Whatever it takes, was immer nötig sein sollte – so antwortete Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) in 2013 in London, als er auf die Frage einging, was er denn zu tun gedenke, um den Euro zu retten. Letzten Monat hat er vorgeführt, was er darunter versteht. Er will die Eurozone mit noch mehr billigem Geld überschwemmen und so den Motor der Wirtschaft wieder anwerfen.
Dafür drückte die von Draghi geführte EZB auf der Sitzung des Rates am 10. März den Leitzins zum ersten Mal auf Null – ein besonders schweres geldpolitisches Geschütz. Schon seit geraumer Zeit straft die EZB Banken ab, die ihr Geld bei ihr parken wollen – im Juni 2014 schlitterte der Einlagensatz bereits ins Negative, im März erreichte er minus 0,4 Prozent. Auch der Spitzenrefinanzierungssatz wurde noch einmal auf 0,25 Prozent gedrückt. In Wirklichkeit sorgt ein neues TLTRO-Programm dafür, dass Banken sich praktisch kostenlos von der EZB refinanzieren können. Diese auf Zuckerbrot und Peitsche basierte Diät soll die Banken im Euroraum dazu bewegen, mehr Kredite zu geben. Bankmanagern, die gerne eher auf sichere Geschäfte mit Staats- oder Unternehmensanleihen setzen, gräbt Draghi hingegen auf eine andere Weise das Wasser ab: Das eigene Quantative Easing-Programm zum massiven Aufkauf von Anleihen stockte die EZB im März von 60 auf 80 Milliarden Euro monatlich auf. Die Käufe sollen noch bis März 2017 dauern und insgesamt 1700 Milliarden Euro in die Märkte pumpen.
Das Vorgehen des Italieners ist nicht unumstritten. Besonders aus Deutschland, der größten Wirtschaft, regte sich heftige Kritik. Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der just auf der Ratssitzung der EZB im März aufgrund der neuen Rotationsregeln nicht abstimmen durfte, drückte sich noch diplomatisch aus: Die Beschlüsse „gingen in ihrer Gesamtschau zu weit“ und das umfassende Maßnahmenbündel habe ihn „nicht überzeugt“, zitierte ihn die Zeitschrift Focus. Als „desaströs“ bewertete die Wirtschaftswoche Draghis Nullzinspolitik. Und Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts forderte im Handelsblatt angesichts der „übergriffigen Interpretation ihres Mandats“ nicht weniger als eine Beschränkung der Kompetenzen der EZB. Gepriesen wurde hingegen Draghis Vorgangsweise vom Internationalen Währungsfonds: Chefökonom Maurice Obstfeld wies darauf hin, dass die Staaten etwas gegen den deflationären Schub der sinkenden Ölpreise tun müssten – so betrachtet, habe Draghi vernünftig gehandelt. Zurückhaltender verhielten sich die großen südeuropäischen Euro-Länder Spanien, Frankreich und Italien, wohl auch weil die lockere EZB-Geldpolitik durch die Verbilligung der Anleihen die Haushalte entlastet. So nahm François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, die EZB in Schutz: Durch das Anwerfen der Notenpresse sei die Wirtschaftsleistung Frankreichs in 2015 um zusätzliche 0,3 Prozent gestiegen, was immerhin für 80 Tausend neue Jobs gesorgt habe.
Man kann jedoch Mario Draghis Vorgehen zumindest in der Theorie nachvollziehen. Seit Jahren kämpft die Europäische Zentralbank mit den Mitteln der lockeren Geldpolitik schon gegen die Deflation – ein Wort, das im Frankfurter Tower vermieden wird. So wie Theatermenschen Shakespeares Macbeth niemals beim Namen nennen und nur „dieses schottische Stück“ bemühen, spricht man bei der EZB nur von negativer Inflation. Deflation ist aber im volkswirtschaftlichen Vokabular nichts anderes als eine verlängerte negative Inflation. Draghis Zentralbanker fürchten sich vor einem Deflationsszenario, weil immer geringere Preise beim Verbraucher eine Wartehaltung bewirken, die den Konsum und damit die Wirtschaft negativ beeinflusst. Deshalb hat die EZB ein Inflationsziel von unter, aber nahe an zwei Prozent vorgegeben. Und als nach einer Steigerung von 0,3 Prozent im Januar die Preise im Februar um 0,2 Prozent wieder absackten, fühlte sich Draghi wahrscheinlich zum Handeln aufgefordert. Gerade dieses Argument wollen ihm die Gegner nicht abkaufen – die Inflation sei nur konjunkturbedingt wegen der Energiepreise gefallen, insgesamt habe man es aber mit Teuerungen und mehr Konsum zu tun. Ende März, fast drei Wochen nach der Entscheidung im Rat der Bank, wurden die Zahlen für Februar 2016 vorgelegt. Die Kreditvergabe in der Eurozone stieg dementsprechend so kräftig wie seit Jahren nicht mehr. Banken vergaben im Februar um 0,9 Prozent mehr Darlehen an Firmen und Privathaushalte erhielten im Februar 1,6 Prozent mehr Darlehen als ein Jahr zuvor – der höchste Zuwachs seit Ende 2011. Verbraucherkredite legten um 5,2 Prozent zu und die so genannte M3 Geldmenge – darunter Bargeld, Einlagen auf Girokonten, kurzfristige Geldmarktpapiere usw. – stieg um fünf Prozent.
Dieses viele billige Geld ist nicht umsonst. Unter der Rechnung könnte mittelfristig sogar ein sehr hoher Preis stehen. Denn die Nullzinspolitik der EZB und das Übermaß an Liquidität haben ernste psychologische Wirkungen, die auch auf die Wirtschaft überschwappen. Sie sind eine Absage an die bewährte Sparpraxis und befeuern Spekulationsblasen. Menschen konnten bisher in der Regel damit rechnen, dass ihre Bankeinlagen sicher sind und langfristig steigen, wenn auch um einen geringen Betrag. Wer höhere Renditen wollte, spekulierte. Doch die Banken sind am Geld der Sparer nicht mehr interessiert, sie schwimmen quasi im Geld. Geben sie jetzt die negativen Strafzinsen der EZB an die Kunden weiter, müssen diese ihren Geldbestand irgendwie vor dem Verfall retten. Es geht nicht nur um Vermögensvermehrung – so legitim sie auch sein mag – sondern langfristig um strikte Existenzsicherung. Auf Angstsituationen reagieren Menschen auch irrational und könnten sich in verschiedene riskantere Anlagen retten – denn auch die sicheren Staatsanleihen werfen kaum mehr etwas ab. Die Preise für Gold, Immobilien, Aktien durchlaufen gerade auch aufgrund der EZB-Politik einen Höhenflug. Konservativere Bankkunden vertrauen dem System gar nicht mehr – der Präsident des deutschen Sparkassenverbandes, Georg Fahrenschon, der schon seit Jahren die Vorgehensweise der EZB kritisiert, sagte der Passauer Neuen Presse, dass die „Schließfächer bundesweit ausgebucht“ seien, weil die Menschen verunsichert sind.
Ein weiterer Problemfaktor ist im weitestgehenden Sinn der demographische Wandel. Schon vor Jahren redete die Politik immer deutlichere Worte: Weil die Gesellschaft altert, müssten Menschen länger arbeiten und in die Rentenkassen einzahlen – aber auch das sei nicht ausreichend. Die Altersvorsorge müsse rentabler sein und auch eine eigenverantwortliche Komponente haben. Im Zuge der Liberalisierung der Rentenversicherungen wurde in vielen Ländern Europas, darunter auch in Rumänien, das System auf mehrere Säulen aufgestellt. Neben dem staatlichen Rentenfonds sollten auch private entstehen dürfen. Arbeitnehmer bis zu einem bestimmten Alter wurden verpflichtet, einen Teil ihrer Sozialversicherungsbeiträge den privaten Fonds anzuvertrauen; auch wurden generell die Investitionen in die eigene Altersvorsorge ermutigt und zum Teil mit finanziellen Incentives gefördert. Diese Rentenversicherungen sollten zwar höhere Renditen abwerfen, aber auch so sicher wie möglich arbeiten, um die Altersvorsorge der Beitragszahler nicht leichtfertig zu verspielen. Dieses Gleichgewicht wurde dadurch hergestellt, dass Rentenversicherer die Beiträge der Pflichtversicherten nur in Papiere ab einer bestimmten Bonität investieren durften. Das waren eben insbesondere Staatsanleihen, doch diese bringen heute kaum mehr Gewinn ein. Unter einer bestimmten Marge kann aber kein Fonds mehr richtig arbeiten und riskiert eine Pleite. Private Rentenversicherungen aus der so genannten zweiten Säule sind in einer Zwickmühle – was sie dürfen, ist nicht lukrativ; was lukrativ ist, dürfen sie nicht. Und auch andere Großanleger wie Lebensversicherungen oder Anlagefonds handeln unter ähnlichen Zwängen, auch wenn Kunden hier völlig frei und in eigener Verantwortung investieren.
Draghi kann vielleicht mit geldpolitischen Maßnahmen dem Euroraum Impulse geben, aber das Vertrauen als Boden, auf dem Wirtschaft gedeiht, kann er kaum beeinflussen. Wie die Börsen reagieren, ist ein großes Fragezeichen. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank steht nicht in einem freien Luftraum, sie ist konjunktur- und kontextgebunden. Und in Europa herrscht gerade ein Klima der Unsicherheit: Der Unmut gegenüber der EU und seinen Institutionen – also auch der EZB – ist auf einem Allzeithoch. Gerade haben die Holländer ihrer Unzufriedenheit Luft gemacht und gegen das geplante Freihandelsabkommen mit der Ukraine gestimmt,in Deutschland ist die europaskeptische AfD vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise immer populärer und viele Briten (wenn nicht die meisten) wollen raus aus der EU. Und Anleger fürchten sich vor einem Szenario, in dem Draghi gerade seine letzte Patrone verschossen hat – was ist, wenn er nicht trifft?
Aber der Nullzins war nur sein vorletztes Machtinstrument. Jetzt wird nämlich gerätselt, ob er auch die silberne Kugel wagt – das so genannte Helikoptergeld. Das Konzept, nach dem eine Zentralbank unter Umgehung der Wirtschaft und des Finanzsektors an die Bevölkerung ausgeschüttet wird, fand er unlängst „sehr interessant“. Wenn plötzlich haufenweise Euro am Konto aller Menschen landen, würden sie ihn vielleicht sogar lieben. Dann wäre er wieder der Super-Mario.
von Alex Gröblacher
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