
Das nationale Hemd ist näher als der europäische Rock
Der rumänische Präsident, Klaus Iohannis, hat Anfang dieses Sommers mehrere außenpolitische Erfolge verbuchen können. Zu den wichtigsten unter ihnen gehören der Besuch in den USA und das Treffen in Washington mit Präsident Donald Trump sowie neuerdings, anlässlich des Europäischen Rats am 23. Juni in Brüssel, die Gespräche mit dem frisch gewählten französischen Präsidenten, Emmanuel Macron. Das Verhältnis zu den USA ist ausgezeichnet, Iohannis und Trump verstanden sich perfekt, auch hinsichtlich des Bekenntnisses der Amerikaner zu Artikel 5 des NATO-Vertrags und, im Gegenzug, der solideren finanziellen Verpflichtungen in der Rüstungspolitik. In der EU sind die Beziehungen dafür aber problematischer und symptomatisch dafür ist auch die Thematik der Begegnung zwischen Iohannis und Macron, auf dessen Tagesordnung die Zukunft der europäischen Entsenderichtlinie stand.
Die Richtlinie 96/71/EG – oder besser gesagt ihre Überarbeitung – ist eine der am meisten umstrittenen aktuellen Fragen in der internen EU-Debatte, zusammen mit anderen Konfliktthemen zwischen älteren und neueren Mitgliedern der Union, wie die Weigerung, Flüchtlinge anzunehmen, die Demokratiedefizite oder das Qualitätsgefälle der Waren für die osteuropäischen Märkte.
Die Vorschrift wurde 1996 verabschiedet, als die Staaten in Osteuropa noch nicht Mitglieder der Union waren. Ihr Zweck war, die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, die für einen relativ kurzen Zeitraum zur Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat geschickt wurden – eine unter den Voraussetzungen eines freien Binnenmarktes immer öfters angetroffene Situation, beispielsweise dann, wenn eine Firma sich verpflichtete, eine in einen anderen EU-Staat gelieferte Anlage zu reparieren. Die Richtlinie garantiert einen minimalen Satz an Rechten, darunter auch, dass entsandte Arbeitnehmer nicht unter dem Niveau des Mindestlohns im Gastland bezahlt werden können. Der Arbeitgeber muss die maximalen Arbeitszeiten und die Mindestruhezeiten sowie die Mindestdauer des bezahlten Urlaubs einhalten.
Nach den Erweiterungswellen von 2004 und 2007, war das Problem jedoch nicht mehr nur auf den Schutz der Rechte einzelner Arbeitnehmer zu begrenzen. Zwischen 2010 und 2014 stieg die Anzahl der Entsendungen um fast 45%, so dass im Jahr 2014 1,9 Millionen entsandte Arbeitnehmer in Europa unterwegs waren. Sehr schnell wurde im Westen, in Branchen wie der Bauindustrie, der Fleischverarbeitung oder dem Transportbereich aufgrund der signifikanten Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa ein Missbrauch festgestellt – der Begriff Lohndumping wurde zum Modewort. Richtige Netze schwer kontrollierbarer Leiharbeitsfirmen und Subunternehmer erschienen, die billige Arbeitskräfte aus dem Osten in den Westen schafften. Sie umgingen das Gesetz durch unterschiedliche Tricks – so bezahlten sie zwar auf dem Papier den Mindestlohn, zogen dem Arbeitnehmer aber vom Entgelt den Gegenwert der Schutzkleidung ab oder stellten ihnen abstruse Unterkunftskosten in Rechnung, teilweise mehrere hundert Euro für einen Matratzenplatz in einem Gemeinschaftsraum.
Die Europäischen Union griff ein und verabschiedete in 2014 eine neue Richtlinie zur besseren Umsetzung der Entsenderichtlinie. Mit der neuen Vorschrift waren zwar keine grundlegenden Systemänderungen verbunden, sie nahm sich aber vor, die Probleme mit Betrug und Regelumgehungen anzupacken. Die Richtlinie verbessert u. a. die Kooperation zwischen den nationalen Behörden, die für die Entsendung zuständig sind; sie führt Bedingungen für die entsendenden Betriebe ein und berechtigt Gewerkschaften, gerichtlich oder verwaltungsrechtlich gegen Arbeitgeber vorzugehen.
Die Richtlinie, deren Umsetzung bis 2016 zu erfolgen hatte, gibt den nationalen Behörden wirksame Instrumente an die Hand, mit denen sie echte Entsendungen von Fällen unterscheiden können, in denen Vorschriften missbraucht bzw. umgangen werden. So können die Behörden eines Gaststaates beispielsweise die Behörden des Herkunftsstaats ersuchen, zu überprüfen, ob das entsendende Unternehmen tatsächlich wesentliche Tätigkeiten in dem betreffenden Land ausübt, die über reine Verwaltungstätigkeiten hinausgehen.
Doch auch diese neue Richtlinie stellte nicht alle zufrieden. Unter dem Druck der Wahlkämpfe verlangten immer mehr politische Kräfte und nationale Regierung in westlichen Ländern der EU einen bessere Schutz ihrer Arbeitskräfte. Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, die Niederlande und Schweden befürworteten in einem gemeinsamen Schreiben die Modernisierung der Entsenderichtlinie und bekannten sich zu dem Grundsatz des „gleichen Entgelts für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. In Frankreich erklärte Emmanuel Macron die Überarbeitung der Richtlinie zur Chefsache.
Doch noch vor den Wahlen in Frankreich ging die Europäische Kommission im März 2016 mit ihren Plänen zu einer Novelle der Richtlinie 96/71/EG an die Öffentlichkeit. Die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Lage in der Europäischen Union habe sich, so die Begründung, seit 1996 stark verändert. Die Einkommensunterschiede haben zugenommen; dadurch wurden unerwünschte Anreize geschaffen, diese Unterschiede durch die Entsendung auszunutzen. Erhebliche Einkommensunterschiede führten zu einer Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen. Infolgedessen betrifft die wichtigste Änderung die Lohnsätze, auf die ein entsandter Arbeitnehmer Anspruch hat, wobei vorgesehen ist, dass die gleichen Vergütungsvorschriften wie im Aufnahmemitgliedstaat gelten, so wie sie in Rechtsvorschriften oder allgemein verbindlichen Tarifverträgen festgelegt sind. Für entsandte und lokale Arbeitnehmer werden demnach die gleichen Vergütungsvorschriften gelten.
Vor allem die Länder im Osten des Kontinents reagierten und zeigten der Kommission die . so genannte Gelbe Karte. 11 Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Slowakei) haben begründete Stellungnahmen übermittelt, in denen sie vorbrachten, dass der Vorschlag ihres Erachtens gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoße. Die nationalen Parlamente von fünf Mitgliedstaaten (Frankreich, Italien, Portugal, Spanien und Vereinigtes Königreich) reichten dafür Stellungnahmen ein, in denen sie ausführen, dass der Vorschlag der Kommission mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar sei. Im Juli 2016 wies die Kommission die Einsprüche ab, das Überarbeitungsverfahren geht weiter.
Abgesehen von den Vorbehalten zu einer möglichen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, nannten die verfahrensführenden Parlamente der 11 Mitgliedstaaten auch Argumente wirtschaftlicher Natur.
So warf die rumänische Abgeordnetenkammer beispielsweise in einem Beschluss vom April 2016 ein, dass eine Lohnkonvergenz nur durch einen Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung zu erreichen sei und der Entwurf der Richtlinie es durch die vorgesehenen Maßnahmen nicht vermag, die Lohngleichheit einzuführen; er aber stattdessen dazu führen würde, dass viele Anbieter aus den neuen Mitgliedsstaaten vom Binnenmarkt verschwinden würden, was signifikante Arbeitsplatzverluste zur Folge haben werde.
Die Arbeitgeberverbände in Europa sind geteilter Meinung, aber die Verbände im Osten des Kontinents – und der europäische Dachverband BusinessEurope – lehnen in der Regel eine Überarbeitung der Entsenderichtlinie ab. In Rumänien unterstützt der Mittelstandsrat (CNIPMMR) die Novellierung nicht. Zu den angegebenen Gründen gehört die Tatsache, dass das Prinzip der gleichen Entlohnung für entsandte Arbeitnehmer wie für die Stammbelegschaft unvereinbar mit einem echten Binnenmarkt ist, da die Lohnunterschiede ein legitimes Element des Standortvorteils der Anbieter sei. Das Prinzip sei außerdem in der Praxis nicht machbar, so der CNIPMMR, da die Anbieter grenzüberschreitender Dienstleistungen Kosten tragen, die die Anbieter am jeweiligen Ort nicht haben – Letztere zahlten nur Löhne, Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge, während Arbeitgeber von entsandten Arbeitnehmern darüber hinaus auch Reisekosten, Unterkunft und Tagesgeld bezahlen müssten. Die signifikanten Lohnunterschiede verzerrten den fairen Wettbewerb der Unternehmen nicht, da die Gesamtkosten eines grenzüberschreitenden Anbieters nicht erheblich unter jenen der Firmen am Ort liegen und ihre Gewinnmargen aufgrund der Konkurrenz sehr gering sind. Zu berücksichtigen seien auch die objektiv bestehenden Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten, die aus den unterschiedlichen Entwicklungsniveaus, steuerrechtlichen und arbeitsmarktpolitischen Vorschriften und sozialversicherungsrelevanten Voraussetzungen resultieren.
Die Organisation weist darauf hin, dass die Etablierung des Prinzips der Lohngleichheit die Freiheit der Anbietung von Dienstleistungen auf dem Binnenmarkt durch rumänische Mittelständler beeinträchtigen werde. Dies werde beträchtliche negative Auswirkungen haben, darunter ein Rückgang der Aufträge oder eine Schließung des Geschäfts mit entsprechenden Personalentlassungen.
Die europäischen Gewerkschaften haben eine geschlossenere Front und unterstützen einstimmig eine Überarbeitung der Richtlinie. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat in einer Stellungnahme sogar eine unheilige Allianz zwischen den nationalen Regierungen und BusinessEurope verurteilt und die Kommission aufgefordert, nicht nachzugeben.
Die Diskussion geht jetzt ins Europäische Parlament, dessen Plenum über die Änderungsvorschläge frühstens nach der Sommerpause diskutieren wird.
von Alex Gröblacher
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