
Die Wirklichkeit ist eine bittere Medizin
Niemand kann dem delegierten Minister für Europafragen, Victor Negrescu, ernsthaft vorwerfen, Bukarest als neuen Sitz für die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) nicht gut beworben zu haben. Die Behörde muss aufgrund des Brexits aus London umziehen und bei der Europäischen Kommission, die den Umzug administrativ gestaltet, haben 19 Städte, darunter auch Bukarest, ihre Bewerbung eingereicht.
Das ist auch normal: die Anwesenheit einer europäischen Institution mit fast tausend Beschäftigten, die jährlich zehntausende Besucher zu den verschiedenen Fachveranstaltungen bringt, ist für jedes Land ein unmöglich zu ignorierender Wirtschaftsvorteil.
Minister Negrescu ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Bukarest gelungen, in dem er die Vorzüge der Stadt für die EMA gepriesen hat: ein neues, geräumiges Bürohaus, mit einem großzügigen Konferenzzentrum. Ausgezeichnete IT-Infrastruktur. Schneller und leichter Zugang über die Metro. Parks und Malls in unmittelbarer Nachbarschaft. Eine sichere Stadt mit einem vielfältigen Immobilienangebot. Die Nähe zum Flughafen. Eine solide medizinwissenschaftliche Gemeinde. Zudem gibt es in Rumänien keine andere EU-Behörde.
Diese Argumente wiegen naturgemäß schwer in einer Entscheidung. Nur hat die echte Situation wenig zu tun mit dem Hochglanzprospekt.
Wahrscheinlich ist Victor Negrescu, der früher Europaabgeordnete war, seit längerer Zeit nicht mehr als gewöhnlicher Fluggast auf Otopeni gelandet und hat sich deshalb nicht mit der Schwierigkeit auseinandergesetzt, in die Stadt zu gelangen.
Die U-Bahn, mit der EMA-Beschäftigte ins Büro kommen sollten, ist extrem voll zu Stoßzeiten – und die Verbindung zum Norden der Stadt ist die meistgenutzte, weil im Verkehr an der Oberfläche Staus garantiert sind. Das Internet ist voll mit Bildern der Menschenmeere, die in Richtung Stationsausgang oder Züge wogen.
Diese Aspekte gehören zur Form und könnten noch übersehen werden, wenn es denn nicht andere geben würde, die mit dem Kern des Problems zu tun haben und daher schwerer zu ignorieren sind.
So scheint der rumänische Staat an der Gesundheit vollkommen desinteressiert zu sein: Nach neuesten Eurostat-Daten (für 2015) gibt Rumänien EU-weit am wenigsten für Gesundheit aus und beleg den vorvorletzten Platz nach dem Anteil am BIP, der in die Gesundheit fließt. Viele Krankenhäuser sind in desolatem Zustand. Weil sie Korruption und schlechte Bezahlung satt haben, verlassen Ärzte und Wissenschaftler Rumänien in Massen, um in anderen Ländern zu arbeiten, wo ihre Leistung höher geschätzt wird. Die rumänische Arzneimittelindustrie ist in Schwierigkeiten.
Der Staat ist nicht fähig, die Immunisierung seiner Bürger sinnvoll zu gestalten – Rumänien gehört zu den fünf Ländern, die bei der gegenwärtigen Masernepidemie zusammen 80% aller Fälle melden. Und diese Unfähigkeit erschien am klarsten, als die Regierung Ende August entschied, das Cantacuzino-Institut zu militarisieren, wo Impfstoffe produziert wurden.
Rumänien würde mit Sicherheit auch als potenzieller Sitz EMA interessanter werden, wenn es diesen Fragen mehr Aufmerksamkeit schenken würde. Das ist aber tatsächlich viel schwieriger, als auffallende Broschüren zu gestalten.
von Alex Gröblacher
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