
Zwischen Slum und Star Trek
Keine 10 Kilometer südwestlich vom Bukarester Stadtrand entsteht die stärkste Laseranlage der Welt. Sie ist das größte wissenschaftliche Projekt Rumäniens und soll über 350 Millionen Euro kosten. Der kleine Ort M?gurele, wo die Anlage steht, ist mit den Instituten für Material- und Kernphysik eines der Forschungshubs Rumäniens.
Der nordöstlichere Zipfel von Bukarest, wo das Stadtviertel Pipera liegt, entwickelt sich hingegen seit einiger Zeit zum klischeeartig benannten Silicon Valley Rumäniens. Zahllose internationale IT-Konzerne und ihre Dienstleister arbeiten hier, die Outsourcing-Branche profitiert von guten Fachkräften zu fairen Preisen.
Zwischen diesen hochtechnischen Star-Trek-Polen stecken jedoch unterentwickelte Cluster: dorfähnliche Häuserviertel, in denen es zum Teil an asphaltierten Straßen und Kanalisation fehlt; triste Betonslums und ein Zentrum, das zwar ansehnlich ist, aber dessen Bausubstanz immer stärker verkommt.
Die Stadt und die umliegenden Gebiete entwickeln sich mit hoher Geschwindigkeit – der Ballungsraum Bukarest-Ilfov ist die wirtschaftlich stärkste Region Rumäniens, mit einem BIP von 39.400 Euro pro Einwohner (Eurostat-Daten für 2015, nach Kaufkraftparitäten). Damit übertrifft die Region aber auch andere Hauptstädte wie Madrid (35.400 Euro), Berlin (34.400 Euro), Rom (31.800 Euro) oder Athen (26.800 Euro).
Die Nationale Prognosekommission (CNP) geht für 2017 und 2018 von einem Wachstum der Region, das zwar leicht unter dem der gesamten Volkswirtschaft liegt, aber dennoch über fünf Prozent erreichen sollte (2017 – 5%, 2018 – 5,2%, 2019 – 5,4%, 2020 – 5,4%). Die Dynamik sorgt praktisch für Vollbeschäftigung. Laut CNP soll die Arbeitslosigkeit in Bukarest-Ilfov bei gerade 1,5% in 2017 liegen und dann bis 2020 um weitere 0,2 Prozentpunkte sinken. Die Nettolöhne steigen im Schnitt von 3.139 Lei in 2017 auf 3.969 Lei in 2020, so die Berechnungen der Kommission.
Doch dieses Wachstum stößt nun – buchstäblich – an die Grenzen der Hauptstadt. Der wirtschaftliche Boom ist ein Magnet für viele Menschen und Unternehmen – und das stellt die Stadt vor große Herausforderungen. Rund 2,1 Millionen Menschen leben in einem engen Raum von nur etwa 230 Quadratkilometer. Doch das sind nur die in Bukarest auch wirklich registrierten Einwohner. Fast jeder dritte rumänische Student ist darüber hinaus an einer der über 30 Hochschuleinrichten im Raum Bukarest immatrikuliert, das sind rund 128 Tausend Studenten. Zudem arbeiten viele der über 400 Tausend Menschen aus dem Landeskreis Ilfov – der inoffiziell als 7. Stadtbezirk gilt – in Bukarest. Nach den zuletzt im April vorgelegten Eurostat-Daten (Stand 2015) gehört Bukarest deshalb mit fast 10 Tausend Einwohnern pro Quadratkilometer zu den Städten Europas mit der größten Bevölkerungsdichte.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung steigen Nachfrage und Preise für Immobilien konstant. Nach einer Kalkulation des Portals imobiliare.ro, das aufgrund von Marktdaten einen monatlichen Preisindex berechnet, sind die Wohnungspreise im Schnitt im Mai 2017 gegenüber Mai 2016 um fast sieben Prozent auf über 1200 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Auch Geschäftsräume werden immer knapper. Ein Bericht des Immobilienkonzerns CBRE geht davon aus, dass die Nichtbelegungsquote bei guten Büroräumen bei nur 9,5% liegt.
Der hohe Bedarf nach mehr und besserem Wohn- und Büroraum hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren neue Stadtteile erschlossen wurden. Doch sie entwickelten sich chaotisch und sind schlecht an den Rest der Stadt schlecht angeschlossen. Am Westrand von Bukarest klagen zum Beispiel die Bürger des neuen Viertels Prelungirea Ghencea, dass sie über eine zu enge Straße nach Bukarest einfahren müssen, die pro Fahrtrichtung nur eine Spur Platz bietet. Schon 2006 versprach die Bukarester Stadtverwaltung an, dass die Straße von einer auf drei Spuren pro Fahrtrichtung erweitert werden sollte, doch nichts geschah. Erst nach Demonstrationen der Anwohner bewegt sich etwas. Im Mai teilte die nationale Straßenverwaltung mit, dass das Projekt zum Bau eines Kreisverkehrs an der Kreuzung des Bukarester Rings und der wichtigsten Straße des neuen Viertels anläuft. Bis die Bürger relativ staufrei nach Bukarest kommen, wird es allerdings noch eine gute Weile dauern – das Projekt soll erst 2019 abgeschlossen sein.
Prelungirea Ghencea ist kein Einzelfall. Im Norden der Stadt liegt das Viertel Greenfield in idyllischer Nähe zum B?neasa Wald. Die Bewohner sind aber praktisch von dem Rest der Stadt abgeschnitten, nachdem einer der beiden Zufahrtswege für den Verkehr gesperrt wurde und der andere hoffnungslos verstaut ist. Zwar wird intensiv über die Lage der etwa 5000 Menschen diskutiert und auch der Schriftsteller Mircea C?rt?rescu schlug in einem öffentlichen Appell Alarm, doch eine Lösung ist zumindest im Moment noch nicht in Sicht.
Und auch wenn Infrastrukturprojekte in Auftrag gegeben werden, heißt das noch lange nicht, dass sie pünktlich fertig werden. Am Südplatz, einem der wichtigsten Knotenpunkte von Bukarest, soll eine fünf Meter tiefe und rund 350 Meter lange Unterführung den dichten Verkehr entlasten. Über 28 Millionen Euro sollte das Projekt kosten, davon kamen fast 19 Millionen Euro von der Europäischen Union. Die Bauarbeiten begannen im Frühjahr 2014 und sollten Ende 2015 abgeschlossen werden. Der Termin wurde später auf den 30. Juni 2016 verschoben und dann ein weiteres Mal bis Dezember 2018.
Die Frage der Verkehrsinfrastruktur stellt sich immer akuter, denn auch die Anzahl der Fahrzeuge steigt kontinuierlich. Nach Angaben der sozialdemokratischen Bürgermeisterin Gabriela Firea, die die Wahlen vor einem knappen Jahr gewann, waren Anfang April in Bukarest fast 1,3 Millionen Fahrzeuge zugelassen. Mehr als 150 Tausend Fahrzeuge gibt es in Ilfov. Dazu kommt der Transitverkehr. Und nachdem die Regierung unter Fireas Parteifreund Sorin Grindeanu Anfang des Jahres auf die Umweltgebühr für Fahrzeuge verzichtete, stieg die Anzahl der Zulassungen noch einmal sprunghaft an – in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden im Großraum Bukarest zusätzliche rund 30000 Autos zugelassen.
Negativ wirkt sich auch das System der Straßen aus. Um von einem Viertel ins andere zu fahren, ist es oft erforderlich, den Weg über den intensiv genutzten Stadtkern zu nehmen. Und nicht zuletzt: Parkplätze sind Mangelware, auch weil Baugenehmigungen für Bürohochhäuser in engen Seitenstraßen erteilt worden sind und zu wenige Parkgelegenheiten für die Angestellten vorgesehen wurden.
Zu viele Autos, zu wenige Parkplätzen, zu enge Straßen, zu schlecht geplante Verbindungen: morgens oder abends in dieser Konstellation von A nach B zu fahren, ist für die meisten Menschen zu einer Qual geworden. Das belegen auch Zahlen des holländischen Navigations- und Kartenkonzerns TomTom – 2016 verbrachten Bukarester Fahrer zu Stoßzeiten doppelt so viel am Steuer wie nötig. Im Jahr sind das im Schnitt 218 Stunden – 27 Arbeitstage. Bukarest war im Jahr 2016 die fünftverstauteste Stadt der Welt, hinter Mexiko Stadt, Bangkok, Jakarta und Chongqing, aber noch vor Istanbul. Der Unterschied ist, dass das echte Megacitys mit Bevölkerungen von zum Teil weit über 10 Millionen Menschen sind.
Das Verkehrsmanagementsystem funktioniert nur sporadisch. Von den 434 Kreuzungen in Bukarest waren Ende 2016 nur 176 im System erfasst – und davon werden nicht alle ständig überwacht. Viele Fahrer setzen inzwischen auf Apps, die auf dem eigenen Smartphone laufen. Der für Telekommunikation und Informationsgesellschaft zuständige Minister Augustin Jianu räumte im April ein, dass ohne die Kartenapp Waze das Gedränge im Verkehr um 10-20% zunehmen würde.
Abhilfe könnte der öffentliche Verkehr schaffen, aber als Bürgermeisterin Firea versuchte, im Norden der Stadt eine für Busse reservierte Spur einzurichten, brach Chaos aus und die Pendler, die nach Bukarest einfahren wollten, mussten noch mehr als bisher im Stau stehen. Am Projekt hält sie dennoch fest und will später einen neuen Anlauf wagen. Der öffentliche Verkehr ist ein Teufelskreis: Busse,
Trolleys und Straßenbahnen sind unpünktlich, weil sie im Stau stehen – und sie stehen im Stau, weil zu viele Menschen ins Auto steigen, da die Öffis unpünktlich sind. Dieser Kreis muss durchbrochen werden. Vom Stadthaushalt von 1,1 Milliarden Euro bekommen die Bukarester Verkehrsbetriebe RATB eine Subvention von 121 Millionen Euro – mit sieben Millionen sollen neue Fahrzeuge gekauft werden.
Die Metro, die vom Verkehrsministerium betreut wird, scheint noch halbwegs gut zu laufen, doch die in den 1980er Jahren gebaute Infrastruktur ächzt unter dem hohen Fahrgastaufkommen. Öfter als alle drei Minuten können im Moment die Züge nicht fahren und das reicht zu Stoßzeiten nicht aus. Immerhin sollen diese Wartezeiten in vier Jahren halbiert werden. Das U-Bahnnetz ist außerdem zu klein; der Bau neuer Verbindungen in den bisher vom Netz abgeschnittenen Westteil Drumul Taberei verspätet. Auch eine Linie zum Flughafen gibt es immer noch nicht.
Die Zeit läuft der Hauptstadt vorbei: Im Jahr 2020 soll auch Bukarest neben anderen 12 Städten vier Spiele bei den Fußball-Europameisterschaften ausrichten. Die National-Arena, das Stadion kann sich sehen lassen, aber wie die Stadt mit den vielen Fans fertig wird, ist unklar.
von Alex Gröblacher
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